Dunkles Erbe - Blut Der Finsternis
schützen sollten. Wie leichtsinnig, oder brauchten sie aus gutem Grund keinen Eindringling zu fürchten? Aus der Erzählung ihrer Mutter wusste sie, dass deren Freundin Lucas eines Tages im Keller überraschte. Sie war nicht lange genug am Leben geblieben, um ernsthaften Schaden anzurichten. Er tötete sie, noch ehe sie seinen Schlafplatz hinter der Treppe erreichen konnte. Eilig zwang sie sich, nicht daran zu denken.
Vor ihr lag die von schummrigem Tageslicht nur unzureichend beleuchtete Empfangshalle, aus der ihr leichter Rosenduft und das muffige Aroma alter Möbel entgegenschlug. Zögernd trat sie ein und lauschte mit laut klopfendem Herzen auf das dumpfe Hallen ihrer Schritte, die unangenehm laut von den hohen Wänden widerhallten. Der Boden war ein Schachbrett aus poliertem Marmor. Abwechselnd schwarz und weiß, so glatt, dass sie ihr Spiegelbild darin sehen konnte.
In gut zehn Metern Höhe wölbte sich die stuckverzierte Kuppeldecke, wie ein weißer Himmel. Eine breite, mit rotem Teppich ausgelegte, Treppe auf der linken Seite der Halle führte im schwungvollen Rechtsbogen hinauf in das obere Stockwerk des Hauses. Rundum säumte eine Empore mit aufwendig geschnitztem Geländer die Wände. Dahinter verloren sich lichtlose Gänge.
Was für ein Luxus. All die Gemälde und Gobelins an den Wänden. Die lebensgroße Marmorstatue neben der Treppe. Arm war Lucas jedenfalls nicht.
Allein diese Statue war mit Sicherheit ein Vermögen wert. Ihr zorniger Blick verlieh ihr Schrecken und fantastische Schönheit gleichermaßen. Sie erinnerte Karen an eine Lamia, jene weiblichen Dämonen, die des Nachts in die Häuser der Schlafenden kamen und ihre Kinder stahlen. Ein grauenvoller und zugleich unwiderstehlicher Anblick, als warte sie nur auf den rechten Zeitpunkt, die steinerne Haut von den glänzenden Schuppen darunter zu schütteln.
Behutsam tasteten ihre Gedanken voran. Tiefer hinein in dieses Haus. Wenn es eine Gefahr gab, dann wollte sie früh genug davon wissen. Doch alles, was sie fühlte, war geradezu hochmütige Zufriedenheit ohne die geringste Störung. Sie spürte weder Hass noch Angst. Kein Schmerz, sondern Ruhe lag innerhalb dieser Mauern.
Alte Gebäude konnten für Menschen mit ihren Talenten ausgesprochen unangenehm, wenn nicht sogar gefährlich werden. Im Laufe der Jahrhunderte konnten sich darin die entsetzlichsten Dinge zugetragen haben. Versetzte sie sich in das Wesen eines solchen Hauses, dann kam sie nur sehr schwer wieder davon los. Und je tiefer sich Hass und Schmerz, oder mitunter die schrecklichen Folgen brutaler, körperlicher Gewalt, in die Atmosphäre hineingefressen hatten, umso begieriger wurde sie hineingezogen und festgehalten. Bei dem Gedanken an den Tower von London wurde ihr heute noch übel, und sie wünschte, sie hätte dieses verfluchte Gemäuer nie betreten.
Doch hier im Haus, in dem so eindeutig nichtmenschliche Kreaturen hausten, fühlte sie sich irrwitzigerweise sicher. Eigentlich sollte gerade hier der Tod in jeder Ecke lauern. Aber sie fand nichts, rein gar nichts. Hier hatte noch niemand sein Leben lassen müssen - zumindest nicht unter Qualen, denn die hätten unübersehbare Spuren hinterlassen.
Nicht unter Qualen - sagt man nicht, Vampire können ihre Opfer dazu bringen, sich freiwillig anzubieten? Himmel, warum musste ihr das jetzt einfallen.
Na, Karen, fühlst du dich immer noch so sicher? dachte sie, drehte sich zur Haustür um und warf ihrem verzerrten Spiegelbild ein schiefes Grinsen zu. Na, sag ich doch. Und jetzt weiter.
Wohin sollte sie zuerst gehen? Links sah sie eine schwere Tür mit überladenem Rahmen und mit kunstvoll geschnitzten Verzierungen in Form von Vögeln und Blüten und üppigen Weinranken. Sie entschied, als Erstes herauszufinden, was der dunkelrote Samtvorhang rechts von ihr verbarg.
Auf Zehenspitzen tippelte sie zu dem mehr als mannshohen Durchgang, zog den Vorhang beiseite und enthüllte einen Raum dahinter, dessen Anblick sie augenblicklich in helle Aufregung versetzte. Sie fühlte sich an Mister Fosters Geschäft erinnert, in dem sie als Kind herrliche Stunden hingebungsvollen Erkundens geheimnisvoller Wunderwaren verbringen durfte. Irgendwann, jenseits der Kindheit, war dieser Laden nur noch einer von vielen gegeneinander austauschbarer Vorstadtwarenhäuser, in denen sie nützliche Sachen, wie Ameisenfallen und Schuhcreme kaufte. Die Erinnerung an jenen seltsamen Zauber und die Sehnsucht nach Wundern war geblieben.
Und jetzt war genau
Weitere Kostenlose Bücher