Dunkles Erbe - Blut Der Finsternis
soeben erdachte Fantasie stand dort eine Frau in strahlend weißem Kleid. Der leichte Stoff reflektierte das Mondlicht, das gerade zwischen den dunklen Wolken aufleuchtete.
Im nächsten Augenblick war das Licht und mit ihm auch die Frau verschwunden. Die schwarzen Schatten schienen sie verschluckt zu haben. Doch gleich darauf tauchte sie wieder auf. Jetzt erkannte Karen beinahe erleichtert, dass sie keinesfalls ein Bewohner des Hauses war, der ihre Anwesenheit bemerkt hatte. Vielmehr war sie sicher, dass die Frau überhaupt nicht real im üblichen Sinne war. Der immer heftigere Wind berührte weder ihr Kleid noch ihre langen, dunklen Haare. Sie schien wie in einem Kokon zu wandeln. Oder wie in einer eigenen Welt, dachte Karen.
Karen tat einige unsichere Schritte aus dem dichten Wald hinaus auf die Wiese, die das Haus umgab. Sie wollte näher heran an dieses Bild, das sie zu rufen schien. Aber was wollte die Frau ihr mitteilen? Wollte sie, dass sie zu ihr kam? Oder war ihr Erscheinen eine Warnung, sich fernzuhalten? Kaum setzte Karen den ersten Schritt auf das offene Feld, zerrte der heftige Wind wie mit gierigen Klauen an ihr.
Brandiger Gestank lag in seinem eisigen Hauch. Ein Geruch wie nach verkohltem Holz. Oh, mein Gott, dachte Karen. Sie ist es. Die Frau, von Denis‘ Leinwand und dieselbe, die das Plasma auf der Zeitung hinterlassen hatte. Im selben Moment, wie zur Antwort auf Karens Erkenntnis, erhob sich eine riesige Feuerwand hinter der Frau. Geblendet riss Karen die Arme hoch, um sich vor der erwarteten Hitze zu schützen. Doch die Flammen loderten kalt und waren gleichermaßen ein Trugbild wie die Frau. Ebenso unerwartet, wie sie aufgetaucht waren, verschwanden die grellen Feuerzungen wieder. Diesmal war auch die Frau fort. Verwirrt suchte Karens Blick in der plötzlichen Dunkelheit nach ihr, doch sie blieb verschwunden. Statt dessen drängte sich ein anderes Bild in ihr Blickfeld. Sie sah einen Mann, der nackt mit unterschlagenen Beinen auf einem Holzfußboden kauerte. In der Hand hielt er ein glänzendes Amulett, das erst leicht silbrig schimmerte und schließlich grell weiß aufloderte. Mit angehaltenem Atem beobachtete Karen, wie sich die Gestalt des Mannes veränderte. Er schien zu wachsen. Seine Glieder wurden länger und kräftiger, das schwarze Haar wand sich wie ein Teppich aus Abertausenden Insekten auf seinem Kopf und färbte sich weiß. Es wurde länger und wuchs, bis es ihn wie ein Mantel aus schlohweißer Seide einhüllte. Er hob den Kopf und schien sie direkt anzustarren. Karen erkannte Arweth, den Ältesten, Calmans Bruder.
»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?« Unbemerkt hatte sich Calman ihr von hinten genähert und riss sie nun zornig am Arm herum. Bestürzt schnappte Karen nach Luft. Sie war viel zu erschrocken, um sich zu rechtfertigen.
»Was hast du da?« Calmans Hand griff nach etwas vor ihrer Brust. Mit einem Ruck streifte er das lederne Band über ihren Kopf. In der Hand hielt er eine runde, silberne Plakette. »Woher hast du das?«
Karen, die sich nur zusammenreimen konnte, dass dieser Gegenstand ein Geschenk der Frau an sie war und sich auf irgendeine Weise aus ihrer Erscheinung materialisiert hatte, sah ihn ausdruckslos an. »Ich hab’s im Gras liegen gesehen«, log sie. Sie wollte ihm nicht von dem erzählen, was sie gesehen hatte. Warum, konnte sie sich nicht erklären, doch eine innere Stimme riet ihr, diese Vision vorerst für sich zu behalten.
»Und da bist du losgelaufen, um es dir zu holen« schimpfte Calman. »Bist du denn noch ganz bei Trost? Was wäre, wenn dich jemand von dort drinnen gesehen hätte?« Er hielt die Silberplatte dichter vor sein Gesicht, um sie genauer anzusehen.
»Das ist doch unmöglich«, flüsterte er atemlos und wendete das Amulett.
»Was denn?«
»Komm erst mal wieder mit zurück!« Energisch zog er sie mit sich.
»Hast du Lucas erreicht? Was sagt er?«
Erst als sie den schützenden Wald erreichten, antwortete er. »Sie sind nicht zuhause«, murmelte er, während er immer noch den Silberanhänger musterte.
»Und kein Schwein weiß, wo sie hin sind. Ist das nicht großartig?«, motzte Jarout. »Hey, was hast du da?«
Er wollte Calman das Amulett aus der Hand schnappen, doch der hielt das Schmuckstück außer Reichweite, sodass Jarouts Finger ins Leere griffen und er einen Schritt nach vorn stolperte. Fluchend gewann er sein Gleichgewicht zurück und warf Calman einen wütenden Blick zu. Seine bernsteinfarbenen Augen
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