Dunkles Feuer
die Arbeit passenden Kleidungsstücken zu suchen. Automatisch fiel ihr Blick in den Spiegel, um ihr Erscheinungsbild zu überprüfen. Dabei fiel ihr ein weißes Stück Papier auf ihrem Spiegeltisch ins Auge. Neugierig kam sie näher und nahm den kleinen weißen Umschlag. Nach einem kurzen Zögern öffnete sie den nicht adressierten Brief.
Frederik hielt den Atem an, jetzt würde es sich entscheiden. Wie würde Julie reagieren? Sie würde bestimmt bald erkennen, dass der Brief nicht auf natürliche Weise in ihr Zimmer gelangen konnte. Und das würde sie verunsichern und sie für seinen Einfluss empfänglich machen, da sie lernen würde, seine Existenz zumindest unbewusst zu akzeptieren.
Dennoch war sich Frederik seiner Sache gar nicht so sicher. War es denn in dieser Zeit überhaupt noch angebracht, einer Frau Gedichte zu schreiben? Und die alles entscheidende Frage war, ob dieses kurze Werk, das er nach so vielen Jahren verfasst hatte, überhaupt noch die Macht besaß, ein Lächeln auf die Lippen einer Frau zu zaubern.
Der Augenblick, in dem Julie den feinen Papierbogen aus dem Umschlag holte, schien für Frederik ewig zu dauern. Er erinnerte sich an frühere Gelegenheiten, als er mit diesem kleinen Trick die Zurückhaltung der verschiedensten Frauen überwunden hatte. Es war einfach erstaunlich, wie leicht die Menschen zu manipulieren waren.
Doch in den meisten Fällen hatte das Lächeln nicht lange auf den schönen, jungen Lippen verweilt, sie wurden oft zu bald in die Realität zurückversetzt. Und dann verhärtete sich das bezaubernde Lächeln in eine wütende oder verbitterte Grimasse. Doch es hatte ihn nie gekümmert. Nur ein einziges Lächeln hatte es gegeben, das zu erhalten er sich gern zur Lebensaufgabe gemacht hätte, nur eine einzige Frau, die seine Poesie verstanden und seine Seele berührt hatte. Und doch hatte sich auch dieses Lächeln erst in eine starre Maske verwandelt und verschwand schließlich ganz. Und nun wünschte er sich bloß, diese Frau vergessen zu können, die ihn in sein Leid gestürzt und ihm den Lebensfunken geraubt hatte.
Den Lebensfunken, den wiederzubekommen er sich zum Ziel gesetzt hatte. Ein Ziel, das er mit Hilfe eines anderen, eben erst erblühten zauberhaften Lächelns erreichen würde.
Julie faltete das Blatt neugierig auseinander und überflog den Inhalt. Ihre Augen weiteten sich überrascht, und unbewusst lächelte sie. Sie setzte sich hin, um diese Botschaft sorgfältiger zu studieren. Leise murmelte sie beim Lesen vor sich hin:
"Ein hoffnungslos finsterer und verschlossener Ort
Ist mein Herz gewesen eine lange Zeit.
Dunkelheit und Verzweiflung huldigten dort
Ihrer Königin, der Einsamkeit.
Doch dann kamst Du in meine Welt,
belebtest mich mit Deinem Lachen,
die Finsternis ist nun erhellt.
In meinem Herzen fühl' ich erwachen
Und sogleich erblühen zu voller Pracht
Eine rote Rose, die nur für Dich lebt,
die mit all' ihrem Wesen nur zu Dir strebt -
ihrer Sonne, mit der lebensspendenden Kraft."
Da standen kein Absender und keine Unterschrift. Doch es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass das Gedicht wirklich an Julie adressiert war. Immerhin lag es auf ihrem Spiegeltischchen. Ein heimlicher Verehrer, ging es Julie vergnügt durch den Kopf. Sie ging die Zeilen noch einmal durch, um einen Hinweis auf ihren Verfasser zu bekommen. Die Worte hörten sich sehr poetisch, aber auch irgendwie altmodisch an. Ein modernes Gedicht würde bestimmt ganz anders klingen, weniger verschnörkelt im Ausdruck und ohne Reime.
Das war es! Das war der Hinweis auf den Verfasser. Doch sie hatte ohnehin kaum Zweifel daran gehabt, wer das Gedicht geschrieben haben könnte.
Leichtfüßig rannte sie die Treppe hinunter.
Als er ihre Schritte hörte, blickte Peter auf. »Nanu, du bist ja immer noch nicht umgezogen.«
»Das spielt jetzt keine Rolle«, winkte sie ab. »Sag mal, Peter, wie lange war Daniel heute eigentlich da?«
»Was spielt denn das für ein Rolle?« fragte Peter überrascht darüber, dass sie den Besuch, den sie vor rund zwanzig Minuten kaum zur Kenntnis genommen hatte, auf einmal so interessant fand. Doch als er ihren drängenden Blick bemerkte, sagte er ihr, was sie wissen wollte. »Nicht lange, vielleicht eine Viertelstunde, wieso?«
»Und du warst die ganze Zeit bei ihm?« fragte Julie weiter, ohne auf seine Frage einzugehen.
»Ja, das heißt, nein«, berichtete Peter verwirrt. »Ich war draußen, und er fragte, ob er drinnen einen Schluck Wasser nehmen konnte. Ich sagte ihm,
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