Durst: Thriller (German Edition)

in dem Schuhkarton, in dem er Quittungen, Visitenkarten und Kleinkram aufbewahrte, tatsächlich fündig. Aus derselben Schachtel nahm er eine seiner beeindruckend vielen Telefonkarten und wählte die Nummer in Curitiba. Fünf Minuten später hatte er Lirio Fabbri am Apparat.
    » Womit kann ich Ihnen dienen? « Lirio hatte eine schöne Stimme mit deutlich südbrasilianischem Akzent.
    Carlo erklärte ihm, woran er arbeitete, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen.
    » Haben Sie zufällig den Namen der Fazenda? « , fragte der Anwalt.
    » Nein. «
    » Das wäre aber nützlich, denn nur mit Hilfe der Namen kommen wir nicht weit. Und 2001 ist ja auch schon eine Weile her… «
    » Es gab aber einen Toten, einen alten Bauern namens Manuel. Er wurde aus nächster Nähe erschossen. «
    Carlo konnte sich Fabbris amüsiertes Gesicht lebhaft vorstellen. » Wissen Sie eigentlich, Carlo, wie viele Tote es bei Landstreitigkeiten in Brasilien jährlich gibt? «
    » Nicht wirklich. «
    » Mehr als tausend– in einem schlechten Jahr. «
    » Aber wenn es Tote gibt, muss es doch auch polizeiliche Ermittlungen geben. Und einen Prozess. Haben Sie nicht ein entsprechendes Verzeichnis für Paraná? «
    » Sicher. Aber haben Sie überhaupt eine Vorstellung, wie viele Fälle von Gewalt aufgeklärt werden und mit einem Prozess und einer Verurteilung enden? Genau zwei Prozent. «
    » Wie ist das möglich? «
    » Unser Justizsystem kann leicht ausgehebelt werden, wenn man die finanziellen Mittel dazu hat. Es gibt zu viel Einflussnahme von außen, zu viel Druck. Und da ziemlich viele Instanzen zu durchlaufen sind, findet man immer jemanden, der bereit ist, ein anderes Urteil zu fällen als der Richter vor ihm. Bei Landkonflikten ist die Situation noch schlimmer, da in diesem Bereich Angst und Schrecken regieren. Die Gerichte erhalten ständig Morddrohungen, und die Richter sind korrumpierbar. Die grassierende Straffreiheit für Justizangehörige ist ein Teufelskreis: Wer bedroht wird, kann allen Versprechungen zum Trotz davon ausgehen, dass er niemanden findet, der ihn verteidigt. « Lirio lachte bitter.
    Das Schweigen in der Leitung wurde nur von ein paar Knackgeräuschen gestört.
    » Lassen Sie uns so verbleiben « , schlug Lirio Fabbri schließlich vor. » Geben Sie mir ein paar Tage, um in mein Archiv zu schauen. Wenn dieser Tote von 2001 existiert, müsste ich ihn finden. Dann rufe ich Sie zurück, in Ordnung? «
    » Sicher, wunderbar. «
    Sie verabschiedeten sich.
    Der Anwalt Antônio Netto ging ein paar Schritte durchs Restaurant Dalva & Dito in der Nähe der Alameda Santos und schaute sich im rötlichen Licht um. Er wurde schnell fündig.
    » Hallo. Entschuldige bitte die Verspätung. Wir mussten uns noch mit ein paar ganz gewöhnlichen Fragen auf Leben und Tod herumschlagen… «
    William Cosimato lachte. Er hatte sich bereits ein Glas Nero d’Avola eingeschenkt und füllte nun das Glas seines Kollegen.
    » Gute Wahl? «
    Netto lächelte und setzte sich. » Exzellent. «
    Billy Cosimato und Antônio Netto waren gleich alt und kannten sich bereits seit der Uni. In den ersten Jahren nach dem Examen hatten sie sogar in derselben Kanzlei gearbeitet, einer großen Wirtschaftskanzlei, die sich auf Fusionen und Übernahmen spezialisiert hatte. Dann war Billy zu Toledo & Schwartz gegangen, während Netto die Seite gewechselt hatte. Miller-Johannsen war ein Mandant jener ersten Kanzlei, die auch die Aufspaltung des Konzerns betreut hatte. Eines Abends zu vorgerückter Stunde hatte Antônio Netto einen Anruf von Paulo Henrique Johannsen bekommen und ein Angebot erhalten, das er nicht hatte ablehnen können.
    Sie bestellten Kalbshaxe mit Backkartoffeln und tauschten die neuesten Neuigkeiten über ihr Leben aus. Das einzig interessante Thema schien allerdings die Arbeit zu sein.
    » Und? « , fragte Netto und schnitt in sein Fleisch. » Was wolltest du mir mitteilen? Am Telefon klang das ja sehr dringlich. «
    » Ja « , sagte William und tupfte sich den Mund ab. » Das ist es, glaub’s mir. «
    Netto zuckte mit den Schultern und musterte ihn erwartungsvoll.
    Billy schlug einen feierlichen Ton an, als er jetzt zu seiner Erzählung anhob. » Du weißt doch, dass ich mit Cássia Toledo zusammenarbeite… «
    » Wie sollte ich das nicht wissen? Sie ist eine der schärfsten Frauen von São Paulo. «
    » Wohl wahr. « Billy kaute. Im Bemühen, sich kurzzufassen, erzählte er ihm die Geschichte dann aber doch bis ins kleinste Detail. Antônio Netto