Durst: Thriller (German Edition)
Die Demonstration in Sobradinho war zwar größer gewesen, doch auch sie hatte die Armee im Keim erstickt. Demonstranten und Militär waren in einem symbolischen Akt auf dem Staudamm aufeinandergetroffen, aber die Stadt zu betreten und zur Kirche zu gehen, hatte man den Menschen untersagt. Die Soldaten, denen die Regierung niedere Arbeiten übertragen hatte – Gruben ausheben, Kanäle für den Betonguss vorbereiten, tonnenweise Erde bewegen, in die Dörfer gehen und die Menschen auf die Zwangsumsiedlung vorbereiten –, waren erschöpft und nervös.
Nach dem Gebet kehrte Dom Cappio, gestützt von seinen Freunden, in die Kirche zurück. Der mittlerweile beinahe zwanzig Tage andauernde Hungerstreik hatte ihn sichtlich gezeichnet. In Kürze würde die Messe beginnen. Die Menschenansammlung zerstreute sich, und die Szenerie ähnelte plötzlich einem Dorffest: In den Mangobäumen hingen Lampen, überall standen Tische herum, und in den Zelten brannte Licht.
Matheus ließ den Blick über die Menschenmenge schweifen. Männer, Frauen und Kinder aus dem gesamten Nordosten Brasiliens waren hier zusammengekommen. Eigentlich aber suchte er einen jungen blonden Mann, wahrscheinlich einen Ausländer, mit einem großen Fotoapparat um den Hals. Sein Blick blieb an zwei Typen hängen, die an einem Tisch saßen, auf dem eine professionelle Fernsehkamera lag. Als er sich näherte, hörte er sofort, dass es Brasilianer waren, ihrem Akzent nach aus São Paulo. Er ging hin und stellte sich vor. Die beiden drehten einen Dokumentarfilm über Dom Cappio und waren schon seit Beginn des Hungerstreiks in Sobradinho. Ihren Gesichtern sah man die vielen schlaflosen Nächte an.
» Ich suche einen ausländischen Fotografen, einen blonden. Mir wurde gesagt, dass er in den letzten Tagen hier war. Kennt ihr zufällig jemanden, auf den die Beschreibung zutrifft? «
Die beiden musterten ihn eindringlich. Es war bekannt, dass in diesen Tagen merkwürdige Leute um die Kirche herumschlichen, Polizisten in Zivil, von denen es hieß, sie seien Agenten des ALBIN , des brasilianischen Geheimdienstes. Offenbar hörten sie sich unter den Aktivisten um. Das Misstrauen war den beiden Filmleuten anzusehen, und Matheus wurde bewusst, in was für eine Situation er sie gebracht hatte. Schnell erklärte er ihnen, warum er den Fotografen suchte.
» Du meinst, dein Bruder wurde vor vier Tagen hier entführt? «
» Genau. «
» Das tut mir aber leid, mein Freund. «
» Es könnte sein, dass der Mann ein Franzose ist, der in Salvador lebt « , sagte der andere. » Die Beschreibung würde jedenfalls auf ihn zutreffen. «
Matheus war plötzlich hellwach. » Ihr wisst also, wer es sein könnte? «
» Ja, ein französischer Journalist. Ob er Fotograf ist, weiß ich nicht, aber in den letzten Tagen war er immer hier. Vielleicht ist er auch jetzt noch da. «
In diesem Moment erschien Sarah Clarice.
» Die beiden kennen vielleicht den Mann, den wir suchen « , erzählte ihr Matheus.
» Ich habe ihn gefunden. Er heißt Pierre Mahabi. « Sarah Clarice schob sich eine Strähne hinters Ohr. » Komm « , sagte sie zu Matheus. » Er wartet in der Bar an der Tankstelle auf uns. «
Die Tankstelle war gleichzeitig eine Raststätte, und es gab auch einen kleinen Raum, der als Internetpoint diente. Von hier aus hatte Sarah Clarice vor zwei Wochen den Bus genommen, um in die Dörfer am Fluss zu fahren. Jetzt war aber bedeutend mehr los: An den Tischchen in der Bar, einer Art Kiosk, in dem Brötchen und Getränke verkauft wurden, saßen etliche Personen. Pierre Mahabi war ein großer, dünner Mann mit sehr kurzen Haaren und einem ungepflegten Bart. Er kam aus Marseille und lebte seit ein paar Jahren in Salvador. Sein Portugiesisch war gar nicht mal übel. Matheus öffnete seine Brieftasche und zeigte ihm ein Foto von Nelson.
» Ja, das ist er « , sagte Pierre und nahm das Foto. » Wir haben uns ein bisschen unterhalten. Freitagnachmittag. «
» Wieso hast du dich mit ihm unterhalten? «
» Ich mache Interviews mit den Leuten hier, für einen Artikel für eine katholische Zeitschrift in Paris. Mich interessiert, was die Leute hier so erzählen, was sie über den Hungerstreik denken, wie sie mit der Trockenheit klarkommen. «
» Hast du meinen Bruder interviewt? «
Pierre lächelte. » Nicht wirklich. Wir haben nur ein paar Worte gewechselt. Er ist nicht gerade der gesprächige Typ, was? «
Matheus sah Sarah Clarice an. Ihre Hoffnungen schienen sich nicht zu erfüllen. Er
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