Durst: Thriller (German Edition)
hat von › systematischer Folter ‹ gesprochen. Begreifst du, was das bedeutet? Das ist, als hätte der Täter genau gewusst, was er da macht. Und vor allem, warum… «
» Und was folgt daraus? « Sandra wirkte angespannt.
» Daraus folgt, Sandra, dass man darüber nachdenken sollte, warum Nelson ein solches Ende genommen hat. «
» Was willst du damit sagen? «
Matheus seufzte und ließ den Blick durch sein kahles Wohnzimmer schweifen.
» Willst du damit sagen, dass Nelson dieses Ende vielleicht verdient hat? «
» Nein, natürlich nicht. Aber sollte Nelson zufällig… Na ja, warum wird man gefoltert? In Filmen geschieht das, wenn der Folterer davon überzeugt ist, dass sein Opfer etwas weiß, das es nicht preisgeben möchte. «
» Ja, im Film. Oft ist der Folterer aber auch einfach ein Psychopath. «
» Du hast also nicht darüber nachgedacht? «
» Ich? Nein. Ich weiß nur, dass man mir ohne jeden Grund meinen Mann weggenommen hat. Für mich ist Nelson nur eines der vielen Opfer einer Gesellschaft, die immer gewalttätiger wird. Was soll denn ein Provinzarzt schon wissen? Was zum Teufel soll Nelson so Wichtiges gewusst haben, dass er es verdient hätte, so brutal ermordet zu werden? « Sandras Stimme brach und schwappte wie eine gewaltige Welle über Matheus hinweg.
Der schwieg. Irgendwann sagte er: » Entschuldige bitte, Sandra. Vergiss, was ich gesagt habe. Wann ist die Beerdigung? «
» Es gibt keine Beerdigung. Wenn man mir seinen Körper zurückgibt, wird er verbrannt, und basta. Nelson wollte es so. Er wollte verbrannt werden. «
» Verstehe. «
» Die Polizei wollte mir das ausreden. Sie sagen, eine Beerdigungsfeier könne aufschlussreich sein für die Ermittlungen. «
» Inwiefern? «
» Keine Ahnung. Vielleicht denken sie, dass der Mörder auch dort auftaucht, am besten mit verspiegelter Brille auf der Nase– wo wir schon beim Film sind. Aber es wird keine Beerdigung geben, Ende der Diskussion. «
» Das ist vollkommen in Ordnung. «
» Matheus, ich bin ein wenig müde. Ich würde mich gerne hinlegen. «
» Natürlich, ruh dich aus. Wenn etwas ist, ruf einfach an, okay? «
Sie verabschiedeten sich.
Matheus stand auf und setzte sich an das Tischchen, das ihm auch als Schreibtisch diente. Unter der Platte war eine breite Schublade angebracht. Matheus öffnete sie. Im Innern befand sich, neben vielen anderen Dingen, auch ein blauer Plastikbeutel. Er legte ihn auf den Tisch und zog ein Heft mit einem steifen schwarzen Deckel heraus. Das schlug er auf und sah auf der ersten Seite die geschwungene Schrift, die er so gut kannte: › Tagebuch eines Landarztes ‹ .
Durchs Fenster drang das schwache, gelbliche Licht der brünierten Eisenlaterne, die merkwürdigerweise am Ende der Straße, in der Nähe des Hauptplatzes von Pelourinho, stehen geblieben war. Sarah Clarice hatte ein paar Stunden tief geschlafen. Jetzt hockte sie wie benommen auf dem Sofa, einen pelzigen Geschmack im Mund und starken Druck auf dem Schädel.
Schließlich erhob sie sich und setzte Kaffee auf. Von der Straße drangen die Stimmen einer Gruppe Jugendlicher hoch, außerdem das Genörgele einer Frau, die Sarah Clarice kannte, einer Kettenverkäuferin, die fünf Sprachen sprach und sich ständig mit irgendwem anlegte.
Sarah Clarice setzte sich an ihren Schreibtisch und schaltete den Mac an. Zunächst ging sie ins Mailsystem von Health Scanner. Wie immer war ein Haufen Spam gekommen, dann diverse Pressemitteilungen und ein paar Nachrichten, die ihre Arbeit betrafen. Als sie ganz nach unten scrollte, fand sie die E-Mail von Matheus, und sofort beschleunigte sich ihr Herzschlag. Die Mail war bereits geöffnet worden. Irgendjemand hatte sie vor ihr gelesen. Unvermittelt packte sie die Wut. Wie war das, verdammt noch mal, möglich? Sie las die wenigen Zeilen, mit denen Matheus ihr die Analyseergebnisse geschickt hatte. Wie dämlich von mir! Ich hätte ihm meine Privatadresse geben sollen, dachte Sarah Clarice, als sie den Anhang speicherte. Bevor sie ihn öffnete, ging sie in die Küche und holte sich einen Kaffee.
Zurück am Schreibtisch, versuchte sie, sich auf den fünfseitigen Text zu konzentrieren. Drei Seiten wimmelten von technischen Details, die Sarah Clarice nur überflog, da sie sowieso nichts davon verstand. Auf den nächsten beiden Seiten folgten die Interpretationen, die sie gründlicher las.
Im Wesentlichen stand da, was Matheus ihr bereits erzählt hatte, als sie mit dem Land Rover von Juazeiro nach
Weitere Kostenlose Bücher