Dying to Live - Die Traurigkeit der Zombies (German Edition)
hatte.
Ich führte Lucy an der Hand zurück zum Sofa. Wir setzten uns. Ich fühlte mich vollkommen ausgelaugt von all den intensiven, widersprüchlichen Gefühlen der Angst und der Zuneigung, die ich verspürt hatte, als Will seine Waffe zog. Gleichzeitig wusste ich jedoch, dass ich ihm Dankbarkeit schuldete, denn als ich in Lucys perfektes Auge blickte, wurde mir bewusst, dass sie meine Gefühle und meine Hingabe nun viel besser verstand, als ich selbst sie ihr je hätte erklären können. Wir lehnten uns aneinander, und ich fühlte mich ihr sehr nahe – ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich mich jemals wieder jemandem so nahe fühlen würde.
Kapitel 9
Schließlich kam der Tag, an dem ich mein erstes Gelübde ablegen sollte. Ich zog die schlichten grauen Hosen und das ärmellose Hemd an, die Mom für mich genäht hatte. Den Großteil des Tages verbrachte ich allein, abseits der anderen, genau wie der Brauch es verlangte. Ich hatte genug über Initiationsriten gelesen, um zu wissen, dass es zum Standardvorgehen gehörte, die Anwärter von der Gemeinschaft zu trennen, bevor man sie mit ihrem neuen Status wieder dort einführte. Das intellektuelle Verständnis, das ich mir mithilfe von Büchern erarbeitet hatte, lag jedoch so weit von der realen Erfahrung entfernt, als würde man nur in einem Kochbuch lesen, anstatt tatsächlich etwas zu essen. Ich hatte den ganzen Tag über das bestimmte Gefühl, dass es sehr unangebracht für mich gewesen wäre, in diesen Augenblicken in der Nähe der anderen zu sein. Ich verstand nicht nur die Notwendigkeit, allein sein zu müssen, ich sehnte mich nach dieser Einsamkeit ebenso sehr wie nach den Riten, von denen ich wusste, dass sie am Ende des Tages auf mich warteten, auch wenn ich sie gleichzeitig fürchtete.
In diesen Stunden des Alleinseins fastete ich und versuchte, mich mental auf mein Gelübde vorzubereiten und das entsprechende Pflichtbewusstsein und die nötige Hingabe zu entwickeln. Ich hatte darüber hinaus auch genug gelesen, um zu wissen, dass man meine Zeit allein und meine Versuche, mit den höheren, nicht-körperlichen bzw. metaphysischen Mächten dieser Welt in Verbindung zu treten, in der alten Welt als »Beten« bezeichnet hätte. Diese Bezeichnung war noch immer recht zutreffend, wenn man sich das ganze Drumherum der organisierten Religionen wegdachte, die ich nur aus Büchern und vereinzelten Bemerkungen der Älteren kannte, die ihnen im Großen und Ganzen aber eher ambivalent gegenüberzustehen schienen. Organisierte Religion war für unser Leben etwas ebenso Fremdes wie die Idee eines Staates, einer Regierung oder von Geld. Aber genauso, wie uns die Notwendigkeit und das Bedürfnis erhalten geblieben waren, in einer Gemeinschaft zu leben, sehnten wir uns danach, uns auch noch mit etwas anderem zu verbinden und zu vereinen, nicht nur mit uns schwachen, sterblichen Menschen selbst, auch wenn sämtliche Glaubensgemeinschaften oder Sekten, die je eine solche Vereinigung versprochen hatten, inzwischen ausgestorben waren – jedenfalls soweit wir wussten. Am Tag meines Gelübdes spürte ich diese Sehnsucht besonders deutlich, und sie füllte mich vollkommen aus und nagte viel stärker an mir als der physische Hunger, der meinen kleinen Körper oft förmlich erdrückte und abschnürte.
Während ich betete, stellte ich keinerlei Fragen und bat um nichts. Ich verspürte nichts als tiefste Dankbarkeit und Verletzlichkeit in dieser Welt, und tief in mir und um mich spürte ich die Gewissheit, dass sich diese Gefühle an etwas richteten, das sie niemals ignorieren, verhöhnen oder missbrauchen würde. Gefühle wie diese hatten bereits zuvor und haben seither unzählige meiner Tage erfüllt, aber ich erinnere mich noch sehr lebhaft daran, dass sie mir an diesem Tag zum ersten Mal vollständig bewusst wurden.
Ein paar Stunden vor Sonnenuntergang kamen schließlich meine Eltern zu mir und wir stiegen gemeinsam in den Geländewagen, den Dad bei längeren, besonderen Ausfahrten benutzte, wenn Benzinsparen keine Rolle spielte. Als wir losfuhren, säumten viele Menschen die Straßen und winkten uns zum Abschied zu. Die Wachen am Tor geleiteten uns durch die beiden Türen an den Rampen, und dann waren wir unterwegs aufs Land. Dad und Roger saßen vorne. Mom saß mit mir auf der Rückbank. Sie drückte meine Hand, als wir losfuhren, zog sich dann aber auf die andere Seite des Wagens zurück, und wir alle schwiegen die gesamte Fahrt über. Wie Mom auf unserem
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