Dylan & Gray
mit gerunzelten Brauen an meiner Serviette herum. Gray beobachtet mich.
»Was ist?«, fragt er.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, erkläre ich. »Solche Momente mag ich gar nicht. Viel lieber hätte ich eine Antwort auf alle deine Fragen und könnte dir eine Erklärung für Amandas Tod geben.«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, lass es. Sag einfach gar nichts. Das ist besser als bescheuerte Bemerkungen wie ›Der Himmel hat sie zu sich gerufen, weil sie zu gut für das Leben auf Erden war.‹ Ich hasse es, wenn Leute solchen Müll reden.«
Er stößt scharf den Atem aus und ich sehe echte Wut in seinen Augen.
»Ich meine, sie war einzigartig. Es gibt auf der Welt niemanden wie Amanda. Das spürte jeder, der das Glück hatte, ihr zu begegnen. Alle haben sie geliebt. So viele idiotische, selbstsüchtige Leute leben jeden Tag vor sich hin und ausgerechnet sie musste sterben. Wieso? Weil sie ein Engel ist und in den Himmel gehört?«
Ich schüttele den Kopf.
»Der Himmel kann mir gestohlen bleiben. Verdammte Scheiße!« In seinen Augen sammeln sich Tränen, aber er ist zu wütend, um sich darum zu scheren. »Wir brauchen Leute wie Amanda. Hier auf der Erde. Es gibt längst nicht genug gute Menschen. Der Himmel kann gefälligst warten.«
Gray atmet tief durch, um sich zu beruhigen. Er hat zu lange gezögert, über Amanda zu sprechen. Stattdessen hat er seine Erinnerungen weggesperrt. Damit hat er sich und seiner Schwester keinen Gefallen getan. Sie hätte nicht gewollt, dass er die Realität beiseiteschiebt, indem er sich in Wut und Depressionen stürzt. Jetzt verstehe ich, warum sein Gesicht so leer aussah, als wir uns das erste Mal begegnet sind, und warum sein Blick nichts aufzunehmen schien. Er war damals gar nicht richtig lebendig. Er hatte sich in seinem Innersten verkrochen, um dem Schmerz zu entkommen.
Aber Leid ist wie Wasser. Es findet immer einen Weg durch jede kleinste Ritze. Man kann es nicht aufhalten. Manchmal muss man sich erst bis auf den Grund sinken lassen, bevor man lernt, zurück an die Oberfläche zu schwimmen.
***
Unser letztes Ziel ist der Musikladen »Happy Trail Records«, der eine Mischung aus neuen und gebrauchten CD s anbietet. Amanda hat den Shop vor allem geliebt, weil er ganz hinten eine stadtbekannte Riesenauswahl an alten Konzertpostern und Originalshirts mit Band-Logos enthält.
Während Gray in den Platten herumstöbert, überlege ich laut, dass wir auch etwas für seine Mom tun sollten.
»Zum Beispiel?«, fragt er.
»Irgendeine nette Überraschung«, sage ich. »Wir könnten ihr ein schickes Dinner servieren.«
Seine Mundwinkel zucken, als müsse er gegen ein Grinsen ankämpfen. »Kannst du kochen?«, fragt er.
»Meine Tiefkühlpizzas sind erstaunlich gut«, sage ich.
»Wow«, meint er. »Einen Ofen richtig vorzuheizen, das muss man schon gelernt haben.«
Ich nicke. »Und was ist dein spezielles Talent?«
Er lehnt sich gegen ein CD -Regal und gesteht, dass er am allerbesten Reste in der Mikrowelle aufwärmen kann. »Außerdem bin ich hervorragend im Zubereiten von Sandwiches«, fügt er hinzu. »Man braucht Fingerspitzengefühl, um das richtige Gleichgewicht zwischen Putenschinken, Brot und Mayonnaise hinzubekommen.«
»Okay, vergessen wir die Idee«, sage ich. »Wir können deiner Mom eine Karte schreiben und Schokolade kaufen. Sie isst doch Schokolade?«
Er betrachtet mich ungläubig. »Welche Frau nicht?«
»Zugegeben, das ist wenig originell. Was mag deine Mom sonst noch?«
»Schlafen«, sagt er. Ich warte auf eine Antwort, die ein bisschen hilfreicher ist.
»Okay … früher hat Dad ihr manchmal eine Flasche Wein mitgebracht. Das war für Mom immer die Krönung des Tages.«
»Roten oder weißen?«
»Roten. Ich glaube, ihre Lieblingsmarke heißt Shiraz.«
Wir spazieren zurück zu meinem Auto, und ich überlege laut, wie wir als Minderjährige an eine Flasche Wein kommen sollen.
»Vielleicht bleiben wir doch lieber bei Schokolade«, sagt Gray und grinst.
E rster Kuss
Gray
Wir fahren zur Villa der reichen Tante und ich folge Dylan nach drinnen. Das Haus ist innen genauso makellos wie die Landschaftsarchitektur rund um den Eingang. Man kommt sich vor wie in einem Kunstmuseum. Überall gibt es Unmengen von Statuen, Figuren und Gemälden. Dylan führt mich ins Wohnzimmer und stellt mich den Pflanzen vor, die sie Lily, Liane, Leo und Lincoln getauft hat. Ihr knallroter Rucksack, der auf dem Fußboden liegt, heißt Ruby.
»Du hast einen Namensfetisch,
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