Dylan & Gray
überreden kann, mit mir zu kommen.
Ich frage sie, wie sie sich ihr Leben in fünf Jahren vorstellt.
»Keine Ahnung«, sagt sie und gibt zu, dass sie sogar Schwierigkeiten hat, für die nächste Woche im Voraus zu planen. Fünf Jahre sind eine unendlich lange Zeit.
Mein Fuß trommelt nervös auf den Boden. »Aber willst du nicht irgendwann sesshaft werden und Wurzeln schlagen?« Ich hege die Hoffnung, dass ihre Wurzeln in derselben Stadt sein werden wie meine. Oder wenigstens im selben Staat. Am liebsten wäre es mir, wenn es New Mexico würde.
»Jedenfalls nicht in näherer Zukunft«, sagte sie.
Ich probiere es mit einer neuen Taktik. »Was ist mit Berufsplänen? Du musst schließlich mit irgendwas Geld verdienen.«
Dylan lehnt sich zurück, stützt die Ellbogen auf und denkt darüber nach.
»Geld ist ganz praktisch, aber auf meiner Liste steht es nicht weit oben. Ich habe bestimmt nichts gegen schnelle Autos, schicke Klamotten und Gourmetrestaurants. Trotzdem finde ich den Himmel immer noch beeindruckender und von Canyons, Bergen, Wäldern kann ich nie genug bekommen. Ich will meine Zeit lieber nutzen, um Erinnerungen und Freunde zu sammeln, als teuren Schnickschnack.«
Wider Willen muss ich lächeln. So viel zu meinem Versuch, mit Dylan ein bodenständiges Gespräch zu führen. Ich genieße bewusst jeden verbleibenden Augenblick mit ihr, weil das Ende immer näher rückt. Sie hat keine Ahnung, wie faszinierend sie auf mich wirkt. Wie genial, unberechenbar und magnetisch. Noch immer kann ich kaum glauben, dass sie gerade mich dazu auserwählt hat, ihr staunendes Publikum zu sein.
Ich frage Dylan, woran sie denkt, wenn sie allein ist.
»Du meinst, woran ich am häufigsten denke?«, fragt sie. Lächelnd schaut sie mir in die Augen. »An dich, Gray.« Dann lehnt sie sich vor, nimmt eine meiner Hände und studiert sie so eingehend, als seien die Linien darauf eine Schatzkarte, die zu einer verborgenen Welt führt. Sie zählt auf, dass sie an meine Lippen denkt, an meine Augen und meine dünnen langen Beine.
Ich protestiere, dass ihre eigenen Beine vielleicht dünn sind, meine jedoch drahtig durchtrainiert.
Lächelnd sagt sie, dass sie besonders meine breiten Hände liebt. Die Muster der Adern an meinen Fingern erinnern sie an Kletterpflanzen. Sie beginnt, die blauen Linien mit der Fingerkuppe nachzufahren und mein Herz schlägt wie wild. Dylan sagt, dass sie außerdem meine langen Wimpern liebt, meine Zehen und das Haarbüschel auf meiner Brust.
»Gibt es etwas an mir, das du nicht magst?«, frage ich, weil ich entschlossen bin, daran zu arbeiten. Mein Ziel ist, irgendwann wenigstens halb so perfekt zu sein wie sie. Aber Dylan schaut mich nur ungläubig an und antwortet, dass sie absolut alles an mir liebt. Ich frage mich, wie das möglich sein kann. Aber dann denke ich, dass sie vielleicht recht hat. Genau so sollte es sich anfühlen.
»Was war eigentlich deine Spontan-Aktion für den heutigen Tag?«, erkundige ich mich. Das frage ich sie immer wieder gerne.
»Heute hatte ich eher einen spontanen Gedanken.«
Ich warte auf die Auflösung.
»Mir ist durch den Kopf geschossen, was wohl die beste Art wäre, geboren zu werden. Also habe ich darüber nachgedacht«, sagt sie, als sei das ein ganz normales Thema. »Wenn ich mir aussuchen könnte, wie ich auf die Welt kommen will, was würde ich wählen? Schließlich ist das der einmalige, große Auftritt unseres Lebens. Den sollte man schon richtig würdigen. Ich habe mir vorgestellt, wie es sich anfühlt, aus einem Ei zu kriechen. Wäre doch cool, oder? Man stemmt sich gegen die Schale, streckt die Arme und Beine, bis die Wände um einen herum splittern … Das wäre ein denkwürdiger Anfang. Viel besser als die Panik, mit der wir Menschenbündel heulend und brüllend an die Luft gequetscht werden.«
»Klingt wirklich nicht ideal«, stimme ich zu.
»Wenn ich mir eine Geburt aussuchen könnte, wäre ich gerne ein Regentropfen«, sagt Dylan. »Ich würde in einer Wolke entstehen, schwerelos ins Fallen kommen und dann immer schneller auf die Erde runtersausen, bis ich in einem Wald lande. Da würde ich wachsen wie eines dieser Kohlkopfkinder aus den Achtzigern.«
Ich unterbreche sie nicht, weil sie sich jetzt in einen ihrer schrägen Trancezustände hineinsteigert.
»Ein Storch würde mich als winziges Baby abholen, mich in ein Frotteetuch wickeln und zu meinem neuen Zuhause fliegen. Auf dem Weg würde er mir Geschichten von der Welt erzählen, vom Meer,
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