Dylan & Gray
die aber glücklicherweise schnell wieder abgezogen ist. Nur eine Laune der Natur. Vorbei und vergessen. Unsere Familie ist wieder zu der alten Vermeidungsstrategie zurückgekehrt, die so herrlich ungefährlich ist. Ehrlich gesagt kotzt es mich an. Unsere Unterhaltungen in den letzten Tagen hatten die emotionale Tiefe von Zeitungsschlagzeilen. Kurz – informativ – ohne Story dahinter. Früher haben mir solche Scheingespräche ausgereicht, aber Dylan hat mir beigebracht, mehr von Menschen zu erwarten.
***
Am Samstagnachmittag entdecke ich meine Eltern beide im Wohnzimmer. Die mörderische Hitze hat sie nach drinnen flüchten lassen. Ich bin auf dem Weg zu Dylan, um ihr einen neuen Wanderpfad zu zeigen. Anscheinend hat sie den Weg zum Silly Mountain noch nicht selbst entdeckt. Mein Vater wirft mir einen seltsamen Blick zu, als ich in den Raum komme. So als würde er sich tatsächlich freuen, mich zu sehen. Vielleicht will er ausnahmsweise über etwas anderes reden als das Wetter und den Termin seiner nächsten Geschäftsreise?
Er sagt mir, dass Coach Clark gestern angerufen hat, um das Stipendium zu besprechen. Dann räuspert er sich. Seine Miene zeigt eine gewisse Verblüffung.
»Er hat behauptet, dass du bereits fest zugesagt hast.«
Ich nicke, denn das habe ich tatsächlich. Außerdem habe ich eine Liste guter Gründe, die ich auf Dad abfeuern kann. Ich bin erwachsen. Sie können mich nicht aufhalten. Ich brauche ihr Geld nicht. Mir wird ganz sicher nichts passieren. Die Ausbildung ist kostenlos. Wir leben in einem freien Land. Ich bestimme über meine Zukunft. Eigentlich sollten sie mit gutem Beispiel vorangehen und ihr eigenes Leben in den Griff bekommen.
Aber Dad will sich gar nicht mit mir streiten.
Ich sehe Erleichterung in seinem Blick. Und noch etwas, das mir ganz fremd vorkommt. Er wirkt glücklich. Tatsächlich sieht er glücklicher aus als in den ganzen Monaten seit Amandas Tod.
»Du bist einverstanden, dass ich nach New Mexico gehe und Baseball spiele?«, frage ich.
»Natürlich«, sagt er. Dad steht auf, geht auf mich zu und legt mir die Hände auf die Schultern. Er sagt, meine Entscheidung sei genau richtig, und er sei sehr stolz auf mich, weil ich die Initiative ergriffen habe. Ich starre ihn an und merke dabei zum ersten Mal, dass wir inzwischen gleich groß sind.
»Wirklich?«, frage ich.
»Du hattest recht. So eine Chance wirft man nicht weg.«
Ich nicke und mein Blick huscht in Moms Richtung. Sie starrt stumm zu Boden.
»Sieht ganz so aus, als würde ich in Zukunft öfter Dienstreisen nach Albuquerque machen«, sagt Dad. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu, dass er schon länger über eine Familientherapie nachgedacht habe. Er konnte sich nur nicht vorstellen, dass ich bei so etwas mitmachen würde. Als ich das Thema selbst angeschnitten habe, war er regelrecht geschockt.
Ich zucke mit den Achseln. Stimmt, man tut schon erstaunliche Dinge, wenn jemand an einen glaubt. Mein Vater versichert noch einmal, dass er sich freut, wenn ich wieder mit Baseball anfange. Nichts könnte ihn und Mom stolzer machen, als mich auf dem Spielfeld zu sehen.
»Ich habe schon ein paar Termine mit einem Therapeuten vereinbart«, sagt er. »Vielleicht ein bisschen überstürzt, aber so können wir noch zusammen hingehen, bevor du wegziehst.«
Damit bin ich total einverstanden und das sage ich ihm auch. Als ich diesmal in Moms Richtung schaue, hat sie die Hände im Schoß gefaltet und nickt mir langsam zu. Sie seufzt und klingt, als würde jeder Atemzug ihr schwerfallen. Von uns allen leidet sie am meisten. Sie ist an Amandas Tod zerbrochen. Seit dem Unfall hat sie sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen. Wenn ich sie sehe, denke ich an ein verglimmendes Stück Papier im Kaminfeuer, das sich an den Rändern zusammenkrümmt, sich einrollt und verschrumpelt, bis es am Ende ganz verschwunden ist. Ich hatte Angst, dass irgendwann nur noch Dunkelheit und Asche von ihr übrig bleiben würden.
Jetzt laufen ihr die Tränen über die Wangen und sie ringt rasselnd nach Luft. Ich ertrage es kaum, sie so leiden zu sehen, und würde alles tun, damit es aufhört. Die Leute sagen, dass Zeit alle Wunden heilt, aber inzwischen weiß ich, dass Trauer sich zu immer neuen Wellen auftürmt und die Gefühle sich im Kreis drehen. Du wachst eines Morgens mit ungewohnter Energie auf, als hätte sich die Dunkelheit verzogen, und gehst an die Aufgabe, ins normale Leben zurückzukehren. Aber dann passiert irgendeine
Weitere Kostenlose Bücher