Dylan & Gray
die vielen Leute an, die an diesem herrlichen Sommertag in ihren kleinen Metallkästen sitzen, und fühle mich unendlich frei. Eigentlich benehmen sie sich viel verrückter als wir. In die verdutzten und empörten Blicke, die sie uns zuwerfen, mischt sich bestimmt eine gehörige Portion Neid.
Als wir uns dem Hollywood Boulevard nähern, gibt es zum ersten Mal seit Ewigkeiten einen Bürgersteig. Ich nehme meine restliche Energie zusammen und sprinte los, als müsse ich bei einem Wettrennen gewinnen. Gray ist entschlossen, mich zu überholen, und wir sausen im Zickzack um die Touristen herum. Ich schreie: »Da vorne ist Cher!«, und Gray schreit zurück, dass wir gerade an Alec Baldwin vorbeigekommen sind. Die Leute drehen sich um und starren. Als wir den Hollywood Boulevard erreicht haben, sind wir beide überhitzt und schweißnass.
Wir beenden unseren Wettstreit, kaufen zwei Wasserflaschen und schlendern zwischen den Touristen herum. Auf dem Weg begegnen uns Captain Jack Sparrow, Spiderman und der Hulk. Ich lasse mich mit jedem von ihnen fotografieren. Mittags verdrücken wir ein paar Sandwiches und dann zieht Gray mich in einen Musikladen, wo wir Stunden damit zubringen, uns durch mehr CD s zu arbeiten, als ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.
Ich frage Gray, warum ihm Musik so wichtig ist. Er schaut mich an und seine blauen Augen leuchten wie der Himmel. Sein Gesicht ist erhitzt, seine Frisur verwuschelt, und es gibt ganz bestimmt niemanden in L. A., der perfekter aussieht. Er greift nach einer Haarsträhne, die mir in die Stirn gefallen ist, zwirbelt sie zwischen den Fingern zusammen und versucht sie zurück in meinen Pferdeschwanz zu stecken. Bei seiner Berührung macht mein Magen einen Hüpfer. Grays Blick sagt deutlich, woran er gerade denkt. Sex. Bestimmt kommt ihm dieser Gedanke heute zum hundertsten Mal. Er hat schon den ganzen Tag so ein inneres Leuchten. Mir geht es ähnlich. Ständig erinnere ich mich an gestern Nacht. Und an heute früh. Und an heute etwas weniger früh. Hoffentlich tun wir es bald wieder. Na gut, zuerst sollten wir wohl duschen.
»Gray«, sage ich, und er blinzelt sich in die Realität zurück. Grinsend fahre ich fort: »Hör auf, an Sex zu denken, und gib mir eine Antwort auf meine Frage.« Er wird rot und behauptet, dieses Thema sei ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen.
»Klar«, kontere ich. »Man sieht dir an der Nasenspitze an, wenn dein Schniedel das Kommando übernimmt.«
Er zuckt mit den Schultern und wendet sich der Frage zu, warum ihm Musik so viel bedeutet. »Schwer zu erklären«, meint er. »Weil sie manchmal das ganze Leben verändern kann.« Ich sage, er soll mir ein Beispiel geben.
Während er die Alben durchgeht, philosophiert er, dass Musik jede Stimmung schlagartig verändern kann. Sie lässt Erinnerungen lebendig werden und alles greifbar erscheinen, was man sich erträumt.
»Ich bin total überzeugt, dass einige Musiker magische Kräfte haben«, sagt er. »Leute wie Bob Dylan, die Beatles oder Paul Simon.« Von bestimmten Songs wird man wie mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit oder die Zukunft geschleudert. Musik kann Tote erwecken, in Trance versetzen und süchtig machen.
Er zieht ein U2-Album hervor und zeigt auf die Titelliste.
»Ich kann noch so schlecht drauf sein, ein einziger Song genügt, um alle negativen Gedanken aus meinem Kopf zu verjagen. Solange die Musik läuft, ärgere ich mich über nichts und höre auf, mir Sorgen zu machen. Solche Songs sind besser als Medizin. Danach fühlt man sich wie neu.«
Er entscheidet sich für fünf heruntergesetzte CD s und ich kaufe ein Best-of-Album mit Lovesongs für zwei Dollar. Als wir wieder auf der Straße sind, lege ich die CD auf den Boden. Gray fragt mich, was das soll, aber ich nehme ihn stumm bei der Hand und führe ihn zu einer Bank auf der anderen Straßenseite. Wir setzen uns hin und schauen zu, wie Leute vorbeischlendern und die CD neugierig betrachten. Eine Frau mit zwei Kindern bleibt stehen, hebt sie aber nicht auf. Schließlich kommt ein Mann vorbei, der sich bückt und die CD näher anschaut. Er sieht aus wie ein Geschäftsmann im korrekten Anzug, hat graues Haar und wirkt müde. Seine Frisur ist durcheinandergeraten. Er schaut sich um, zuckt mit den Schultern und steckt die CD in seine Aktentasche. Ich lächele zu Gray hoch und sage, vielleicht kann der Mann gerade jetzt ein paar Lovesongs gebrauchen. Vielleicht verändert die Musik sein Leben.
Wir gehen zurück zum Auto
Weitere Kostenlose Bücher