Dylan & Gray
Kleinigkeit, durch die du an deine Trauer erinnert wirst. Es genügt schon ein Song im Radio, ein Filmtitel, ein Foto … und der Schmerz überfällt dich aus heiterem Himmel, tritt dir in die Rippen, wo dein Herz sein sollte, und ertränkt dich in einer Flut aus Erinnerungen. Ein erbarmungsloser Kreislauf, der dich auspowert und dir die Kraft zum Kämpfen nimmt, weil es sich anfühlt, als würdest du in jeder neuen Runde härter zu Boden gehen. Du fühlst dich grün und blau geschlagen und irgendwann bist du zu erschöpft, um dich noch einmal aufzurappeln und es wieder zu versuchen. Du bleibst einfach liegen. Das ist mit meiner Mom passiert.
Jetzt steht sie auf, kommt auf mich zu und fällt mir regelrecht in die Arme. Zuerst bin ich so überrascht, dass ich mich nicht rühren kann. Dann ziehe ich ihren dünnen, zitternden Körper an mich und halte sie ganz fest, während sie in mein T-Shirt weint.
»Es tut mir so leid, Gray«, sagt sie und bringt die Worte kaum heraus, weil die Tränen ihr die Luft abschnüren. »Du hast mich gebraucht und ich war nicht da. Aber ich liebe dich mehr als alles auf der Welt. Das weißt du doch, oder?«
Ich nicke und sage, dass ich sie genauso lieb habe.
»Kannst du mir verzeihen?«, stößt sie schluchzend hervor.
Ich muss schlucken. Natürlich verzeihe ich ihr. Ich versichere meiner Mom, dass ich nie auf sie wütend war. Kein kleines bisschen.
»Und ich verlasse euch nicht, ich gehe einfach nur aufs College«, sage ich. »Wir bleiben immer eine Familie. Ehrenwort.«
Inzwischen weinen wir alle. Zum ersten Mal seit Amandas Tod sind Tränen eine Erleichterung, anstatt zu ersticken, blind zu machen und alles nur zu verschlimmern. Die Trauer herauszulassen fühlt sich an wie ein Erwachen. Eine rituelle Reinigung. Ein kleiner Schritt nach vorn.
***
Ich kämpfe meinen Stolz nieder und rufe bei meinem Ex-Besten-Kumpel Brandon Stack an. Wenn ich ernsthaft vorhabe, alle mit meinem grandiosen Comeback zu verblüffen, brauche ich so viel Training, wie ich kriegen kann. Ich erzähle ihm von New Mexico und er freut sich unglaublich für mich. Er überschüttet mich mit Glückwünschen, lobt das Team über alle Maßen und sagt, Coach Clark sei der beste Trainer weit und breit. Wir reden stundenlang. Er ist begeistert von der Idee, mich wieder fit zu machen, bevor ich wegziehe. Zwar gibt es im Moment kein offizielles Training, aber er trifft sich trotzdem regelmäßig mit ein paar Teamkollegen. Ich kann jederzeit dazukommen. Dankbar nehme ich an. Er sagt, wie toll er es findet, dass ich mich gemeldet habe. Bevor ich recht weiß, wie mir geschieht, habe ich meinen besten Freund zurück.
Ich dachte, er würde verbittert reagieren und mir vorwerfen, dass ich ihn fast ein Jahr lang geschnitten habe. Ich hatte erwartet, dass er mich am ausgestreckten Arm verhungern lässt, weil ich es mit ihm genauso gemacht habe. Aber nichts davon ist geschehen. Seit Ewigkeiten habe ich ihn auf Abstand gehalten und mir eingebildet, er sei arrogant geworden und würde nur noch an sich selbst denken. In Wirklichkeit war ich derjenige, dem alle anderen egal geworden sind. Ich habe mir eingeredet, mein ganzes Leben sei eine Tragödie und meine Zukunft ein Haufen Scherben, während Brandon Stack der glückliche Goldjunge ist, dem jede Tür offensteht. Lange Zeit war ich so am Boden, dass mich selbst der Gedanke an Freundschaft zu viel Energie gekostet hat. Wie sollte ich Interesse an Menschen aufbringen, wenn ich mich anstrengen musste, überhaupt weiterzuatmen? Im Nachhinein bin ich überrascht, dass ich wenigstens ab und zu schlafen konnte, ohne Tabletten einzuwerfen.
Während ich zu Dylan fahre, wird mir ganz schwindelig von den vielen Veränderungen in meinem Leben. Ich versuche immer noch, mit dem Gedanken klarzukommen, dass ich glücklich sein darf. Die Zukunft fühlt sich wieder aufregend an und trotzdem muss ich kein schlechtes Gewissen haben.
Nun fehlt zur Vollendung nur noch eine Person, die mein Leben perfekt macht, sodass alle es wie ein Kunstwerk bestaunen können.
Dylan hat mich völlig verändert. Und in vier Tagen reist sie ab. Wenn man das Gefühl hat, dass die Welt nur noch aus einer Person besteht, wie kann man sie gehen lassen? Wie kommt man über einen Menschen hinweg, den man nie vergessen wird? Dafür gibt es nur eine Lösung. Ich kann nicht erlauben, dass sie aus meinem Leben verschwindet. Ich muss Dylan überzeugen, dass sie mit mir nach New Mexico zieht.
E rstes Carpe Diem
Gray
Wir
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