Dylan & Gray
begrüßt mich in meiner neuen Heimat wie ein riesiges, von der Natur aufgestelltes Willkommensschild. Der Gipfel ragt 4200 Meter in den Himmel und man sagt, er sei ›bleich wie der Wintermond und einsamer als Gott‹. Er wirkt seltsam fremd an diesem Ort, steht ganz allein und hat den Kopf in den Wolken. Da haben wir beide etwas gemeinsam.
Gestern bin ich an einem Ort vorbeigekommen, der ›Unkraut‹ heißt, und habe mich mit einem Mann unterhalten, dessen Lebenswerk eine Bierbrauerei ist. Er hat gesagt, man bekommt nur einmal die Chance, die Welt zu umrunden, und ich sollte das Beste daraus machen. Und genau das habe ich mir vorgenommen. Egal, wen ich treffe und wohin es mich verschlägt, ich bin jeden Morgen beim Aufstehen entschlossen, alles zu genießen. Wenn man stets das Bestmögliche aus dem Tag herausholt, kann man nie enttäuscht werden.
Heute war ich in Eureka, einer alten Goldgräberstadt an der Grenze zu Oregon, und habe eine Frau kennengelernt, der die einzige Bäckerei hier gehört. Der Ort liegt verborgen zwischen steilen Berghängen, die in der Sonne metallisch glitzern und den Leuten vorgaukeln, in der Felsentiefe seien Schätze verborgen. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Der Eisenwarenladen dient gleichzeitig als Bar und Cowboys sitzen mittags an der hufeisenförmigen Theke, wo sie neben Regalen mit Angelködern ihren Kaffee trinken.
Direkt neben dem Eisenwarenladen befindet sich die Bäckerei. Sie hat die besten Zimtschnecken, die ich in meinem ganzen Leben gegessen habe, überzogen mit einer Zuckerkruste, die mir regelrecht über die Zunge tanzte. Als ich die Besitzerin namens Lila fragte, was für eine geheime Zutat sie hineinbäckt, sagte sie: Fröhlichkeit. Jedes Essen schmeckt besser, wenn man Glück hineinmixt, erklärte sie mir. Alles im Leben braucht eine Prise Zufriedenheit, um richtig zu gelingen, sei es nun die Arbeit oder die Partnerschaft. Wenn man keine Freude daran hat, was man tut oder mit wem man es tut, dann schmeckt es am Ende niemandem.
Also habe ich mir vorgenommen, dass mein Leben rundum appetitlich werden soll. Ich will bei jedem Bissen dafür sorgen, dass er unvergesslich bleibt. Schon seltsam, dass man von wildfremden Leuten oft genau das Richtige im richtigen Moment gesagt bekommt. Worte können so hilfreich sein. Gerade wenn man die Energie verliert und ins Zweifeln gerät, geben sie einem neuen Schwung.
Die Reise schenkt mir wirklich viel, aber ich kann trotzdem nicht ganz vergessen, was sie mir genommen hat. Eine Erinnerung verfolgt mich hartnäckig.
Keine Stunde vergeht, ohne dass ich an Gray denke.
Woran erkennt man, dass man jemanden liebt? Ich glaube, wenn ganz gewöhnliche Momente durch die Person zu etwas Besonderem werden. Wenn es sich wie das größte Abenteuer der Welt anfühlt, zusammen gar nichts zu tun. Gray dachte, er würde mir nicht genügen. Was ich damals nicht zugeben konnte – was ich selbst erst später erkannte habe – ist die Tatsache, dass es genau umgekehrt war. Gray war zu viel für mich. Wahre Liebe kann zu einer Falle werden. Man fesselt sich an den Partner und dazu bin ich noch nicht bereit.
Deshalb musste ich möglichst viel Abstand zwischen uns legen.
Ich starre auf den Horizont und stelle mir vor, wie es wohl wäre, zwei Leben haben zu können, die parallel verlaufen. Ich könnte mich aufspalten und mein Alter Ego würde sich für eine sichere, geordnete Laufbahn entscheiden, so wie die Gesellschaft es am liebsten sieht: mit Uniabschluss, Heirat, Kindern, Karriere, Golden Retriever und zweistöckigem Haus in einem schläfrigen Vorort. Manchmal wünsche ich mir diese Einfachheit, aber wahrscheinlich trägt jeder von uns einen unruhigen Geist in sich. Wir träumen davon, in was wir uns verwandeln könnten, wenn wir die Freiheit hätten, unsere Begabungen und Potenziale zu entdecken. Doch dazu müssten wir gegen die Normen verstoßen und Risiken eingehen. Deshalb halten die meisten Menschen ihre Wünsche und Fantasien möglichst weit auf Abstand. Sie reden von ihren Träumen wie von einem hohen Berg, den sie niemals erklettern können, und begnügen sich mit einem Leben im Tal. Dort ist alles viel bequemer, man kommt schneller und problemloser voran und muss nicht mit überraschenden Lawinen rechnen. Einen Preis allerdings muss man bezahlen: Man verzichtet auf den Blick vom Gipfel.
Im Moment fühle ich mich, als würde ich außer Kontrolle zwischen diesen beiden Lebensmöglichkeiten hin und her schlingern. Aber
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