Éanna - Ein neuer Anfang
sicher. Und wenn wir bei der restlichen Ausrüstung und beim Proviant ein paar Abstriche machen, müsste es hinkommen, Éanna. Und ein bisschen Hunger macht uns doch auch nichts aus, da haben wir doch schon ganz andere Zeiten erlebt. Ich finde, wir sollten es jetzt wagen, wo du gerade so viel Geld geerbt hast! Wer weiß, was in einem Jahr ist. Wenn wir Anfang April nach Independence aufbrechen, können wir dabei sein! Und wenn wir erst einmal dort sind und merken, dass unser Geld doch nicht reicht, können wir immer noch ein oder zwei Jahre in Independence bleiben und dort arbeiten. In einer solchen Stadt, von der aus Hunderte von Siedlertrecks und Goldgräbern nach Kalifornien aufbrechen, fehlt es doch mit Sicherheit an Männern und Frauen, die erst einmal dortbleiben und arbeiten wollen, meinst du nicht?«
Die Verlockung war groß, unwiderstehlich groß. Und es dauerte nicht lange, bis Éanna bereit war, das Abenteuer bereits im nächsten April zu wagen.
Schon am nächsten Tag stand Brendan am Dienstboteneingang der Harrington-Residenz und ließ ihr durch eines der Küchenmädchen ausrichten, dass auch Emily und Liam seinem Vorschlag begeistert zugestimmt hatten. Nun durften sie keine Zeit mehr verlieren.
Éanna erschrak fast ein wenig, als sie erkannte, wie bald sich ihr Leben nun wieder grundlegend ändern würde: Bereits am folgenden Montag, wenn Emily ihre letzte Lieferung Hemden abgegeben und den Lohn dafür erhalten hatte, würden sie nach Missouri aufbrechen! Erst mit dem Hudson-Fährdampfer um acht Uhr abends in der dritten Klasse nach Albany und dann am folgenden Morgen von dort auf dem billigsten Weg mit Eisenbahn und Booten weiter nach Independence.
Noch in derselben Nacht schrieb Éanna in ihrer Kammer einen Brief an Patrick. Lange dachte sie darüber nach, wie sie beginnen sollte: Lieber Patrick erschien ihr genauso unpassend wie das steife Werter Patrick . Schließlich schrieb sie Mein treuer Freund auf den weißen Briefbogen. Und dann bedankte sie sich für seine unglaubliche und beschämende Großzügigkeit, die er ihr erneut erwiesen hatte, und wünschte ihm, er möge in New York glücklich und ein erfolgreicher Schriftsteller werden. Ihre Sätze klangen steif und umständlich und doch hoffte sie, dass Patrick zwischen den Zeilen lesen würde und wüsste, wie dankbar sie ihm für seine Hilfe war. Sie versicherte ihm, ihn fortan immer in ihre Gebete einzuschließen und ihn nie zu vergessen, auch wenn sie in Zukunft weit voneinander entfernt leben würden.
Zuletzt teilte sie ihm noch den Tag und die Uhrzeit ihrer Abreise nach Albany mit, falls er am kommenden Sonntag nicht die Zeit finden würde, sich von ihr zu verabschieden. Und sie hoffte sehr, dass Patrick ihrem Wunsch folgen und zur angegebenen Zeit am Hafen sein würde. Denn sie wusste, dass sie ihn unbedingt noch einmal sehen und sprechen musste, bevor er für immer aus ihrem Leben verschwand.
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Dichtes Schneegestöber fegte über die Docks am East River und Brendan zog seine Kappe zum Schutz tief in die Stirn. Es war spät geworden, schon eine gute Stunde nach Einbruch der Dunkelheit. Aber es war trotzdem ein guter Tag für ihn gewesen: Weil es schon im Morgengrauen neue Fracht an Bord nehmen sollte, hatte das Kohlenschiff unbedingt noch an diesem Tag entladen werden müssen. Und er hatte seine Sache so gut gemacht, dass ihm vom Vorarbeiter versichert worden war, auch morgen wieder in den Docks arbeiten zu können. Das war ein Glücksgriff, denn sie konnten jeden Dollar gut gebrauchen, den er und Liam in den noch verbleibenden vier Tagen bis zu ihrer Abreise zusätzlich verdienten!
Als er mit tief gesenktem Kopf durch die dunklen Gassen Richtung Five Points ging, dachte er darüber nach, warum es noch immer so schwer für sie war, Arbeit zu finden. Es müsste nun, wo jeden Tag mehr Menschen ihre Jobs in New York aufgaben, um im Goldfieber nach Kalifornien aufzubrechen, doch eigentlich um einiges leichter sein als zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in der Stadt. Doch die Arbeitsstellen, die frei wurden, waren häufig nicht für Tagelöhner wie Liam und Brendan vorgesehen, und waren sie es doch einmal, so standen die beiden in unmittelbarer Konkurrenz zu den vielen einheimischen Arbeitssuchenden, aber auch zu unzähligen mittellosen Einwanderern aus Irland und anderen Ländern, die noch immer täglich in New York an Land gingen. Und es war nicht abzusehen, wann der Strom der Flüchtenden verebben würde. Der Ausbruch
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