Éanna - Ein neuer Anfang
Lager der Händler überall mit der Kleidung für den Herbst gefüllt werden und viel von dem, was wir hier in New York herstellen, wird im September in die Städte und Dörfer im Hinterland transportiert, wo Kaufleute auf die neue Ware warten. In dieser Zeit können sich die Kleiderfabrikanten in der Regel vor Aufträgen gar nicht mehr retten. Deshalb gibt es in den Sommermonaten immer mehr zu tun, als man eigentlich schaffen kann. Ich denke, ihr habt also heute gute Chancen! Aber wundert euch nicht, wenn die Kerrigans euch in den nächsten Wochen zur Eile antreiben und ihr bis in die Nacht arbeiten müsst, um euer Wochenpensum zu erfüllen und den Abgabetermin einzuhalten.«
»Über zu viel Arbeit werden wir uns bestimmt nicht beklagen«, versicherte Emily sofort.
»Gut so. Aber die harte Arbeit in diesen Monaten hat auch ihr Gutes, denn weil so viele Aufträge vorliegen, zahlen die Kerrigans im Sommer pro Hemd einen Cent mehr als sonst – also sechs statt fünf Cent, obwohl auch die hart verdient sein wollen. Habt ihr eigentlich an euren Dollar Pfand gedacht?«
»Ja!« Éanna öffnete kurz ihre Faust, in der die Silbermünze aufblitzte.
»Gut, dann sollte es ja keine Probleme geben.«
Wenig später traten sie auf der rechten Seite der William Street durch eine Toreinfahrt, überquerten einen kleinen sandigen Hof und folgten Kate in den niedrigen Ziegelbau der Kleidermanufaktur von Chester Kerrigan.
Erleichtert warfen sich Éanna und Emily einen kurzen Blick zu, als sie hinter der langen Holztheke einen Mann mit schütterem Haar und einem Zwicker auf der kräftigen Hakennase erblickten. Das musste Mister Kerrigan sein!
»So, ihr wollt also für mich arbeiten.« Der Unternehmer musterte die beiden Mädchen scharf durch seine Brille, nachdem Kate sie ihm vorgestellt hatte. »Versteht ihr euch denn auch auf das Nadelwerk? Seid ihr sicher, dass ihr eure Sache auch ordentlich für mich erledigen könnt?«
Éanna und Emily beteuerten einstimmig, geschickt mit der Nadel umgehen zu können und bei der Arbeit für ihn in Zukunft größte Sorgfalt walten zu lassen. Éanna unterstrich ihr Anliegen, indem sie den Dollar Pfand auf die Theke legte.
»Gut. Ich nehme an, Missis O’Hara hat euch schon gesagt, wie die Arbeit hier vonstattengeht und welch hohe Qualität meine Frau und ich von unseren Näherinnen erwarten?« Mister Kerrigans buschige Brauen schossen ein Stück in die Höhe.
Éanna und Emily nickten.
»Gut, gut. Dann will ich es mit euch versuchen, nachdem Missis O’Hara sich so überzeugend für euch eingesetzt hat!«, sagte er schließlich, steckte den Dollar ein und griff zu einem dicken Rechnungsbuch, um ihre Namen und Adresse sowie das Material einzutragen, das er ihnen mitgeben wollte. Dann verschwand er im Lager und kehrte einige Minuten später mit den vorgefertigten Teilstücken für dreißig Männerhemden und einem Beutel, der die dazugehörigen Knöpfe enthielt, zurück.
»Ihr habt Zeit bis zum nächsten Montagmorgen, um mir zu zeigen, dass ihr sauber arbeitet! Dann will ich alle dreißig Hemden akkurat genäht und mit gerader Knopfleiste wieder auf dem Tisch haben!«, teilte er ihnen mit. »Also seht zu, dass ihr keine Zeit vertrödelt! Denn ab der nächsten Woche ist die Schonzeit vorbei! Dann muss jede von euch mindestens dreißig Hemden in einer Woche schaffen – so wie Missis O’Hara, die sogar regelmäßig vierzig Kleidungsstücke pro Woche zusammennäht, und genauso wie all die anderen Arbeiterinnen, die ich beschäftige! Wenn ihr bei diesem Tempo nicht mithalten könnt, habt ihr hier nichts verloren! Wir haben Hochsaison und da muss die Arbeit flott und ohne Verzögerungen erledigt werden, wenn ich meine Verpflichtungen einhalten will.«
»Wir werden Euch bestimmt nicht enttäuschen, Mister Kerrigan!«, versicherte Éanna. Sie konnte nur hoffen, dass Emily und sie der Aufgabe, dreißig Hemden in einer Woche zusammenzunähen und mit Knöpfen zu versehen, auch wirklich gewachsen waren. Natürlich hatten sie in ihrem bisherigen Leben schon einiges an Näharbeiten verrichtet, doch diese neue Herausforderung war mit den alltäglichen Hausarbeiten nicht zu vergleichen. Éanna wusste, dass eine mühsame und anstrengende Woche vor ihnen lag. Aber dreißig Hemden bedeuteten auch einen Wochenverdienst von einem Dollar und achtzig Cent, ab der zweiten Woche sogar für jede von ihnen! Nachdem sie in der ganzen letzten Woche als Streichholzmädchen nicht einmal fünfzig Cent eingenommen hatten,
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