Éanna - Ein neuer Anfang
schwarzhaarige Zimmermädchen, ein gutes Jahr älter als sie selbst und bereits seit zwei Jahren im Dienst der Harringtons, war von erstaunlich zierlicher Gestalt und hatte ein offenes, rundliches Gesicht mit rosigen Wangen. Sie neigte, wie Éanna schnell feststellte, zu fröhlicher Geschwätzigkeit, wenn niemand in der Nähe war, der sie zur Ordnung rufen konnte. Aber sie war auch flink und arbeitete konzentriert und sorgfältig.
Sie trug ein fersenlanges dunkelviolettes Kleid und darüber eine mit Rüschen gesäumte weiße Schürze, deren obere Bänder auf dem Rücken über Kreuz liefen und mit den Taillenbändern zu einer kunstvollen Schleife zusammengebunden waren. Am Hals lugte der Rüschenkragen einer Bluse unter dem hochgeschlossenen Kleid hervor. Und auf dem Haar saß wie ein Diadem aus gestärkter Spitze ein weißes Häubchen. Éanna war tief beeindruckt von Agnes’ Erscheinung und es erschien ihr seltsam unwirklich, dass sie selbst von nun an zum Arbeiten auch solche vornehmen Kleider tragen sollte.
»So, du bist also die Neue!«, begrüßte Agnes sie auf dem Flur hinter dem Dienstboteneingang fröhlich und schüttelte ihr die Hand. »Éanna Sullivan ist dein Name, nicht wahr? Und du kommst aus Irland, richtig? Ich stamme aus Wales, also von der anderen Seite der Irischen See. Wir waren also quasi mal Nachbarn mit nur ein bisschen Wasser dazwischen!« Rasch schaute sie sich im Flur um und fuhr dann gedämpft fort: »Willkommen im Haus der vier weiblichen Tyrannen, Éanna! Du wirst schnell feststellen, wen ich meine, wenn du erst einmal mit der Arbeit hier begonnen hast: Missis Harrington und ihre beiden elf- und dreizehnjährigen Töchter Liz und Daphne. Und dann ist da noch Miss Alberta Forsyth, die Haushälterin, die immer so dreinblickt, als hätte sie gerade eine halbe Tonne Lebertran geschluckt!« Als sie Éannas betroffenes Gesicht sah, kicherte Agnes und fuhr augenzwinkernd fort: »Ach was, das war doch nur ein Scherz, Éanna! Es gibt viel schlimmere Herrschaften in New York als die Harringtons, das kann ich dir sagen. Wenn man sich nichts zuschulden kommen lässt, hat man es hier sogar recht gut. Obwohl Liz und Daphne manchmal schon ziemliche Quälgeister sein können. Aber das wirst du alles noch früh genug selbst herausfinden. Jetzt komm mit, bevor Miss Forsyth, der alte Hausdrache, uns hier noch beim Tratschen erwischt und du sie schon gleich an deinem ersten Tag gegen dich aufbringst!«
Éanna, die seit ihrem Eintreten noch nicht ein einziges Wort von sich hatte geben können, nickte nur schnell und verkniff sich einen Kommentar über Agnes’ Redseligkeit. Denn genauso wenig wie sie die Haushälterin gegen sich aufbringen wollte, hatte sie vor, es sich durch eine dumme Bemerkung mit Agnes Fuller zu verscherzen.
Über die hintere Dienstbotenstiege gelangten sie in die nach frischer Stärke und einem dezenten Blumenduft riechende Kleiderkammer für das Personal. Dass es solch einen Ort überhaupt gab, war nur eine von zahlreichen neuen Erfahrungen, die Éanna an ihrem ersten Tag in dem weitläufigen Anwesen der Harringtons machte.
»Du bekommst zwei Dienstmädchenkleider, zwei weiße Blusen, zwei Schürzen, zwei Häubchen, zwei Paar schwarze Strümpfe und Schnallenschuhe«, teilte Agnes ihr in der Kammer mit und musterte sie von Kopf bis Fuß, bevor sie sich an den langen Kleiderstangen zu schaffen machte. »Und pass bloß auf, dass du dich bei der Arbeit nicht schmutzig machst, vor allem nicht beim Ausräumen der Kamine und beim Feuermachen. Denn diese Schürzen und Blusen mit ihren Falten und Rüschen zu bügeln, ist eine Heidenarbeit, das kann ich dir sagen! Ich wünschte manchmal, die gnädige Frau hätte uns eine Arbeitskleidung ausgesucht, die ein bisschen praktischer ist!«
Éanna dagegen freute sich über die schönen neuen Kleider. Nachdem Agnes auf Anhieb die passende Kleidergröße gefunden hatte, zog sie sich schnell in der Kammer um. Jetzt war sie Patrick dankbar, dass er in dem Geschäft auf der Bowery Street darauf bestanden hatte, dass sie sich auch neue Leibwäsche und Unterröcke aussuchte, denn so stand sie jetzt nicht in ihren alten, verschlissenen Sachen vor Agnes.
Als Schürze und Häubchen richtig saßen, führte Agnes Éanna hinauf ins Dachgeschoss, wo sich die Kammern für das Personal befanden. Das Zimmer, das Éanna von nun an mit Agnes teilen sollte, war spartanisch eingerichtet, aber sauber und hell. Rechts und links an der Wand stand je ein Bett mit einem
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