Éanna - Ein neuer Anfang
Wieder einmal hatte er sie aus einer ausweglos erscheinenden Situation gerettet. Wie konnte sie ihm nur danken?
»Aber warum weinst du denn, Éanna?«, rief er betroffen, als er sah, wie ihr die Tränen über das Gesicht rannen. »Dazu besteht doch wirklich kein Anlass!«
»Doch!«, erwiderte sie mit erstickter Stimme. »Immer seid Ihr da, wenn ich nicht mehr weiterweiß … und alles so … so hoffnungslos für uns aussieht!«
Wie gern hätte er sie jetzt in die Arme genommen und ihre Tränen getrocknet. All sein Geld hätte er dafür hergegeben!
Doch er tat nichts dergleichen.
Stattdessen beugte er sich zur Vorderwand der Kutsche vor, schob den Holzschieber der schmalen Sprechluke auf und rief dem Kutscher entschlossen zu: »Bringt uns zur Bowery, Ecke Broome Street, und zwar auf dem schnellsten Weg!«
Zwanzigstes Kapitel
Éanna saß mit dem Gesicht zur Tür an einem der kleinen Holztische von Kelly’s Cosy Kitchen , die man in zwei Reihen entlang der Backsteinwand in dem tiefen, schlauchförmigen Raum aufgestellt hatte. Links von den Tischen zog sich eine solide Holztheke mit erhöhten dreibeinigen Schemeln davor an der Wand entlang, hinter der Thomas Kelly mit seiner Frau Martha und ihrer hübschen fünfzehnjährigen Tochter Charlotte kalte und warme Sandwiches zubereiteten, Fleischspieße über dem offenen Feuer wendeten und Kartoffelsuppe mit Wurststücken darin in einem mächtigen Kessel warm hielten.
Das einfache Lokal, eines der wenigen reputierlichen seiner Art in Five Points, lag am westlichen Rand des Viertels nahe der Ecke, wo sich die Centre mit der Walker Street kreuzte. Vier Stufen führten die Besucher hinab in den weitläufigen Raum. Das Essen war einfach, aber schmackhaft, reichhaltig und preiswert. An Alkohol wurde nur eine Sorte Porterbier ausgeschenkt. Und wer versuchte, sich damit zu betrinken, den setzte der bullige Thomas Kelly ohne langes Federlesen auf die Straße.
Wegen seines guten Rufes wurde Kelly’s Cosy Kitchen auch von weiblichen Gästen ohne männliche Begleitung aufgesucht und war zudem der bevorzugte Treffpunkt der Zeitungsjungen des Bezirks. Am Mittag, wenn sie die Morgenzeitungen ausgetragen hatten, trafen sich die Jungen hier auf eine deftige Mahlzeit, und wenn sie mit dem Verkauf der Abendausgaben fertig waren, versammelten sie sich wieder bei Kelly’s, bevor sie loszogen, um sich irgendwo in einem Park, auf den Stufen der City Hall oder in Hauseingängen einen Schlafplatz für die Nacht zu suchen. Auch an diesem Abend herrschte lautes Stimmengewirr und Gedränge im Lokal.
Vor Éanna auf dem Tisch standen ein Becher und eine billige Tonkanne mit Tee, den sie bisher kaum angerührt hatte. Sie war viel zu aufgeregt und angespannt, um jetzt etwas trinken zu können. Unablässig blickte sie zur Tür und wartete voller Unruhe und mit einer Mischung aus Angst und Freude darauf, dass Brendan endlich hereinkam. Nachdem sie Emily rasch von der unglaublichen Neuigkeit erzählt hatte, hatte sie die Freundin gebeten, Brendan sofort zu ihr in das Lokal zu schicken, wenn er nach Hause kam.
Denn es war ihr tatsächlich gelungen, die Anstellung bei den Harringtons zu erhalten, obwohl sie es noch immer nicht recht glauben konnte. Missis Harrington, deren Eleganz Éanna fast so eingeschüchtert hatte wie ihre kühle Reserviertheit, hatte nach einer kurzen, kritischen Musterung ihrer Person Patricks Empfehlungsschreiben entgegengenommen und überflogen. Anschließend hatte sie Éanna über ihren Lohn und ihre Arbeitszeiten in Kenntnis gesetzt und dann ganz unvermittelt gefragt, ob sie gleich morgen anfangen könne. Natürlich hatte Éanna sofort Ja gesagt. Und mit einem knappen Nicken sowie der Anweisung, am nächsten Tag pünktlich um halb sieben zur Stelle zu sein und sich von einer gewissen Agnes über ihre Aufgaben unterrichten zu lassen, hatte die Hausherrin sie wieder weggeschickt.
Was würde Brendan wohl sagen, wenn er erfuhr, dass sie von morgen an eine Arbeit als Dienstmädchen hatte? Und wie würde er reagieren, wenn er hörte, wer ihr zu der Anstellung verholfen hatte? Sie wusste nur zu gut, dass Patrick O’Brien für Brendan immer noch ein rotes Tuch war, und konnte nur hoffen, dass er vernünftig war und die Dinge so sah wie sie.
Éanna war allmählich übel vor Aufregung.
Da trat Brendan in den Raum. Und kaum fiel sein Blick auf sie, da nahm sein Gesicht auch schon einen ungläubigen Ausdruck an.
»Wo hast du denn diese guten Sachen her?« Fassungslos starrte er
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