Eanna - Stürmische See - Éanna ; [2]
Dublin zu kommen. Niemals hatte sie geglaubt, dass es in dieser riesigen Stadt besser um sie bestellt sein würde als auf dem Land, wo man immer eine Hütte oder eine verlassene Scheune zum Übernachten gefunden hatte. Einzig und allein ihrer verstorbenen Mutter war es zu verdanken gewesen, dass Éanna sich überhaupt in die Stadt aufgemacht hatte. Denn Katherine Sullivan hatte Éanna auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen, nach Dublin zu gehen.
Éanna hatte nicht den Versuch gemacht, die entfernten Verwandten zu suchen, die sie hier angeblich haben sollte. Sie hatte ihre Hilfe nicht gebraucht.
Sie hatte sich allein durchgeschlagen und darauf war sie stolz.
Und so zog sie Morgen für Morgen los und dankte dem Herrgott für die Gaben, die er ihr beschert hatte. Bei aller Sparsamkeit vergaß sie in dieser Zeit auch nicht Neill, dem sie so viel schuldig war. Wenn sie im Morgengrauen dick vermummt ihren Karren abholte, scheute sie nicht den Umweg zu seinem Schlafplatz in der Thomas Street, um ihm einen halben Penny in die Hand zu drücken. Es war ein morgendliches Ritual, das ihr so wichtig war wie sein »Gott segne Euch, Miss Sullivan!«.
Wie unzählige andere Notleidende in der Stadt, die sich nicht einmal ein Kellerloch in den Liberties als nächtliche Unterkunft leisten konnten, verbrachte Neill die Nacht in einem Hausflur. Alte Zeitungen waren seine Matratze und seine Zudecken, die er morgens sorgfältig zusammenfaltete und bis zum Abend in eine Ecke legte. Und keiner der Bewohner rührte sie an oder nahm sie gar weg. Es war in Dublins Mietshäusern längst ungeschriebenes Gesetz, dass die Hausflure als nächtliche Notquartiere für die Ärmsten der Armen dienten, solange sie Ruhe wahrten und sich bei Tagesbeginn wieder auf die Straße begaben.
Die Tage und Wochen verstrichen für Éanna in einem eintönigen Gleichmaß. Lediglich die abendlichen Treffen mit Brendan und die sonntäglichen Besuche bei Patrick brachten eine angenehme Abwechslung. Emily ging weiterhin ihrer Arbeit in der Spinnerei nach und verlor auch über ihr Vorhaben, sich das Geld auf Caitlins Weise zu verdienen, kein Wort mehr. Éanna hoffte, dass ihre Freundin doch zu große Skrupel hatte, um diesen Schritt zu tun.
Trotzdem begann sie, sich ernstlich Sorgen um ihre Freundin zu machen. Obwohl Emily nicht klagte, sah Éanna ihr doch an, wie sehr sie sich in der Spinnerei plagte. Ihre Augen entzündeten sich und ihr Gesicht nahm mehr und mehr das krankhafte Aussehen an, das so viele andere Mädchen und Frauen in der Fabrikhalle hatten. Auch quälte sie immer heftigerer Husten, der sich erst in den frühen Morgenstunden legte.
»Das gibt sich schon wieder«, spielte Emily ihr Leiden herunter.
Aber Éanna glaubte nicht daran. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie in der Spinnerei nicht mehr würde mithalten können und von Miss Paddington unbarmherzig durch eine andere ersetzt würde. Und sie fürchtete, dass ihre Freundin sich sicher schon Gedanken darüber machte, was danach kam.
Während sie auf der Landstraße unterwegs war, zermarterte Éanna sich das Gehirn, was sie tun könnte, um ihrer Freundin zu helfen. Doch immer wieder kam sie zu dem Ergebnis, dass es nichts gab, was sie oder Brendan auf Dauer für Emily tun konnten.
Umso wichtiger war es für Éanna, dass Brendan ihre Sorgen teilte.
»Emily ist eine Kämpfernatur«, versuchte er ihr Mut zu machen. »Sie wird es sicher noch eine ganze Weile in der Fabrik aushalten. Und wir werden weiter überlegen, wie wir ihr helfen könnten. Wer weiß, vielleicht kommt dir auf deinen Streifzügen ja etwas zu Ohren. Jemand, der eine Küchenhilfe sucht, zum Beispiel. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben!«
Verzagt sah Éanna ihn an. »Emily geht es jetzt schon richtig schlecht, Brendan! Ihr Husten wird von Tag zu Tag schlimmer.«
»Es ist eine bodenlose Ungerechtigkeit, dass Menschen wie Emily sich in der Spinnerei zu Tode schuften, während die hohen Herrschaften sich in das feine Tuch kleiden und erhobenen Hauptes durch die Straßen flanieren! So kann es doch auf Dauer nicht weitergehen. Es wird wirklich Zeit, dass endlich etwas geschieht. Jemand sollte diesen Leuten von Stand etwas mehr Benehmen beibringen! Notfalls sogar mit Gewalt.«
Mit funkelnden Augen machte Brendan seiner Empörung über die unzumutbaren Arbeitsbedingungen in der Fabrik Luft.
Éanna verstand seine Wut nur allzu gut. Doch für derlei Überlegungen war in ihrem Kopf im Moment kein Platz. Ihre Gedanken
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