EB1021____Creepers - David Morell
»Ich verzichte.«
»Vinnie? Wie ist es mit dir? Du warst derjenige, der ihn
aufmachen wollte.«
»Danke«, sagte Vinnie unbehaglich, »aber du hast ihn auf‐
gekriegt, also solltest du ihn auch öffnen.«
»Okay, aber denkt daran, wenn das eine gigantische Ent‐
deckung ist, wird sie nach mir benannt.« Balenger hob den
Deckel des Koffers.
Ein bitterer Geruch drang aus dem Inneren des Koffers.
Fünf Stirnlampen und fünf Taschenlampen richteten sich auf
den Inhalt.
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Niemand rührte sich.
»Ich hab das Gefühl, mir wird gleich schlecht«, sagte Cora.
»Was ist das?«
Der Koffer war mit Pelz gefüllt. Ein mumifizierter Torso mit
Kopf. Pfoten. Hände.
»Mein Gott, ist das ein Mensch?«, fragte Vinnie. »Ein Kind,
eingewickelt –«
»Ein Affe«, sagte Balenger. »Ich glaube, das ist ein Affe.«
»Ja, wie gesagt – willkommen im Dschungel.«
»Aber warum soll irgendwer… meint ihr, jemand hat ihn da
reingesperrt, den Koffer abgeschlossen und ihn ersticken las‐
sen?«, fragte Rick.
»Vielleicht war er auch schon tot«, sagte der Professor.
»Und jemand hat ihn aus Nostalgie mit sich rumge‐
schleppt?« Cora hob beide Hände. »Das ist so krank wie nur
irgendwas, was ich jemals –«
»Vielleicht war das ein Haustier, und jemand hat versucht,
ihn ins Hotel zu schmuggeln. Und er ist erstickt, bevor der
Besitzer ihn rauslassen konnte.«
»Krank«, sagte Cora. »Krank, krank, krank. Wenn dem Be‐
sitzer so viel an ihm gelegen hat, warum hat er ihn nicht raus‐
geholt und begraben?«
»Vielleicht war er vom Kummer überwältigt«, sagte Balen‐
ger.
»Und warum hat er den Koffer dann abgeschlossen, bevor
er verschwunden ist?«
»Ich fürchte, dafür habe ich auch keine Erklärung«, sagte
Balenger. »Die Erfahrung, die ich bisher bei allen Artikeln ge‐
macht habe, in denen es um Leute ging, ist diese – die Leute
sind eher verrückt als gesund.«
»Also, das hier ist mit Sicherheit verrückt.« Balenger griff in
den Koffer. »Du willst das anfassen«, fragte Vinnie. »Ich habe
Handschuhe an.« Balenger gab dem Kadaver einen leichten
Stoß. Er fühlte sich verstörend leicht an. Der Pelz schabte über
den Kofferboden. Ganz unten fand Balenger einen Gummiball
mit roten Punkten. Er entdeckte eine Tasche an der Innenseite
des Kofferdeckels und griff hinein. »Hier ist ein Umschlag.«
Das Papier war gelb und brüchig. Er öffnete den Umschlag
und fand ein verblichenes Schwarz‐Weiß‐Foto darin. Es zeigte
einen Mann und eine Frau um die vierzig. Sie lehnten sich an
das Geländer eines hölzernen Gehwegs. Er erstreckte sich weit
nach rechts, während sich hinter den beiden das Meer ausbrei‐
tete. Wahrscheinlich war dies die Promenade von Asbury
Park. Balenger glaubte, den Umriss des Kasinos in der Ferne
zu erkennen. Der Mann trug ein kurzärmliges weißes Hemd,
kniff im Sonnenlicht die Augen zusammen und sah aus, als
leide er seelische Qualen. Die Frau trug ein Rüschenkleid und
lächelte verzweifelt. Beide hatten Eheringe an der Hand. Zwi‐
schen sich hatten sie einen Affen. Er hielt einen Ball, der aus‐
sah wie der Ball in dem Koffer, grinste und streckte die Hand
nach der Kamera aus, als habe der Fotograf ihm eine Banane
gezeigt. Balenger drehte das Foto um. »Da ist ein Entwick‐
lungsdatum. 1965.« Er sah noch einmal in den Umschlag.
»Hier ist noch was.« Er zog einen vergilbten Zeitungsaus‐
schnitt heraus. »Eine Todesanzeige. 22. August 1966. Ein Mann
namens Harold Bauman ist mit einundvierzig Jahren an einer
Gehirnembolie gestorben. Er hinterließ eine Exfrau namens
Edna.«
»›Ex‹?«, fragte Vinnie nach.
Balenger richtete die Taschenlampe auf das Namensschild
des Koffers. »Edna Bauman. Trenton, New Jersey.« Er warf
einen weiteren Blick auf das Foto. »1965 tragen sie Trauringe.
Ein Jahr später sind sie geschieden, und der Exmann – wie
heißt er, Harold? – ist tot.«
»Ein Bild der Verzweiflung«, sagte Vinnie. Seine Kamera
blitzte.
»Mach den Koffer zu«, sagte Cora. »Schließ ihn ab. Leg ihn
wieder auf das Kissen, wo er war. Wir hätten ihn nicht aufma‐
chen sollen. Machen wir, dass wir aus diesem Zimmer raus‐
kommen, und schließen die verdammte Tür ab.«
»Erinnert mich an das, was ich vorhin in dem Motel gesagt
habe. Manche Gebäude lassen die Vergangenheit so lebendig
werden, als wären sie Batterien. Sie scheinen die Energie von
allem gespeichert zu haben, das jemals in ihnen
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