EB1021____Creepers - David Morell
verstecken.«
»Als wir noch Studienanfänger in einem Seminar waren,
das der Professor gegeben hat, hat er uns gefragt, ob wir mit
ihm in ein altes Kaufhaus gehen wollen«, sagte Vinnie.
Conklin sah amüsiert aus. »Es war nicht ganz ohne Risiko.
Wenn einer von ihnen verletzt worden wäre oder wenn die
Universität herausgefunden hätte, dass ich meine Studenten
zu einem illegalen Unternehmen ermutigt habe, hätte ich ge‐
feuert werden können.« Die Begeisterung ließ sein Gesicht
jünger wirken. »Ich nehme an, ich wehre mich immer noch
gegen die Regeln – ich versuche Unruhe zu stiften, solange ich
es noch kann.«
»Es war eine unheimliche Erfahrung«, sagte Vinnie. »Die
Verkaufstheken in dem Kaufhaus waren noch da. Und ein
paar Waren. Mottenzerfressene Pullover. Hemden, an denen
die Mäuse genagt hatten. Alte Registrierkassen. Das Gebäude
war wie eine Batterie, die die Energie von allem gespeichert
hat, das jemals in ihm geschehen war. Und dann hat es diese
Energie wieder abgegeben, und ich hatte das Gefühl, ich könn‐
te rings um mich her die Anwesenheit dieser lang verschwun‐
denen Kunden spüren.«
»Vielleicht gehörst du eher an die Universität Iowa in den
Kurs Kreatives Schreiben«, zog Rick ihn auf. »Okay, okay, aber
ihr wisst schließlich alle, was ich meine.«
Cora nickte. »Ich hab das auch gespürt. Deswegen haben
wir den Professor gebeten, an uns zu denken, wenn er wieder
etwas Ähnliches plant. Auch nachdem wir den Abschluss ge‐
macht hatten.«
»Jedes Jahr suche ich ein Gebäude aus, von dem ich glaube,
dass es außergewöhnliche Qualitäten hat«, erklärte der Profes‐
sor Balenger.
»Einmal haben wir ein fast vergessenes Sanatorium in Ari‐
zona infiltriert«, sagte Rick.
»Und einmal waren wir in einem texanischen Gefängnis,
das seit fünfzig Jahren aufgegeben worden war«, fügte Vinnie
hinzu.
Cora grinste. »Und das nächste Mal haben wir uns auf eine
aufgelassene Ölplattform im Golf von Mexiko geschlichen.
Spannend war’s jedes Mal. Also, und was haben Sie sich dies‐
mal ausgesucht, Professor? Was hat Sie nach Asbury Park ge‐
führt?«
»Eine traurige Geschichte.«
4
Asbury Park war im Jahr 1871 von dem New Yorker Fabrikan‐
ten James Bradley gegründet worden, der den Ort nach dem
Begründer des amerikanischen Methodismus, Bischof Francis
Asbury, benannt hatte. Bradley suchte sich den Ort am Meer
aus, weil er sowohl von New York im Norden als auch von
Philadelphia im Westen aus gut zu erreichen war. Die baum‐
gesäumten Straßen und prächtigen Kirchen zogen weitere Me‐
thodisten an, die sich hier ihre Sommerhäuser errichteten. Die
drei Seen und vielen Parks des Ortes boten sich für Spazier‐
gänge und Familienausflüge an. Anfang des zwanzigsten
Jahrhunderts war die eine Meile lange hölzerne Strandprome‐
nade der Stolz der gesamten Küste. Wenn die Tausende von
Urlaubern nicht am Strand lagen oder im Wasser herump‐
lanschten, aßen sie die berühmten ortstypischen Kaubonbons
oder besuchten das aus Kupfer und Glas errichtete Carousel
House oder das Palace‐Amusements‐Gebäude, in dem es meh‐
rere Fahrgeschäfte, eine Bootsfahrt durch den Tunnel der Lie‐
be, ein Karussell und ein Riesenrad gab. Unter völliger Mis‐
sachtung der methodistischen Ursprünge des Ortes besuchten
manche von ihnen auch das prächtig ausgestattete Kasino, das
sich am südlichen Ende der Promenade erhob.
Während des gesamten Ersten Weltkriegs, der wilden
Zwanziger, der Depressionszeit und noch den größten Teil des
Zweiten Weltkriegs über hielt die Blütezeit von Asbury Park
an. Aber wie ein Symbol dessen, was noch folgen würde, ver‐
wüstete ein Hurrikan im Jahr 1944 die Umgebung. Der wieder
aufgebaute Urlaubsort bemühte sich darum, seine großen Zei‐
ten erneut aufleben zu lassen; er kämpfte die fünfziger Jahre
hindurch und hätte es in den sechziger Jahren beinahe er‐
reicht, als Rockkonzerte die Convention Hall an der Promena‐
de bis zum Bersten füllten. Die Mauern, die sich noch an die
harmonischen Klänge von Harry James und Glenn Miller
erinnerten, erzitterten jetzt unter den hämmernden Rhythmen
von The Who, Jefferson Airplane und den Rolling Stones.
Aber um 1970 war der Niedergang schließlich nicht mehr
aufzuhalten. Rock ‘n’ Roll war ein Merkmal dieser Jahre, eben‐
so waren es aber auch der Vietnamkrieg, die Protestbewegung
und die Rassenunruhen. Die Letzteren
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