Ebbe und Glut
abwärts.
Alles, was Mia erreichen wollte, hatte sie bis jetzt nicht erreicht und würde sie auch in Zukunft nicht mehr erreichen. Sie hatte keinen Mann, keine Kinder, kein Geld. Stattdessen eine Scheidung, einen nie fertig geschriebenen Roman, erste graue Haare (die sie überfärbte), Speckröllchen auf den Hüften, Orangenhaut an den Beinen und am Hintern (sie wusste nicht, was schlimmer war – schrumpelige oder hängende Pobacken), Krähenfüße um die Augen und Besenreiser an den Waden. Sie hatte immer häufiger Rückenschmerzen und geriet schnell aus der Puste, wenn sie mit ihren Nichten durch den Garten tobte.
Eigentlich hatte sie ziemlich viel. Nur war nichts davon brauchbar. Selbst ihr Job war unbrauchbar. Aber immerhin hatte sie überhaupt wieder einen. Das war wenigstens ein kleiner Trost. Doch was sollte sie machen, wenn das Jahr um war und ihr Vertrag auslief? Oder – noch schlimmer – wenn die giftige Dagmar Roth ihren Mann dazu anstachelte, sie vorher zu feuern?
»Ach komm, das ist doch totaler Quatsch«, sagte Henny, die sich geduldig Mias Gejammer anhörte und sie an den Türstehern vor den Sexclubs auf der Reeperbahn vorbei schob. Sie verlor kein Wort darüber, dass sie zu Fuß auf total unbequemen Schuhen durch die Nacht laufen musste, statt in ihrem gemütlichen Bett zu liegen, wo sie ohne Mia längst wäre. »Wir hatten einen großartigen Abend, und du hast dich dabei betrunken wie eine Zwanzigjährige. Wobei - ich bin nicht mal als Zwanzigjährige aus einem Taxi geflogen, weil ich zu besoffen war.« Sie kicherte. Auf einmal fand sie die Geschichte nur noch komisch. »Je oller, je doller. Und ich glaube, der Typ in der Bar vorhin fand dich richtig scharf.«
Mia wusste nicht, wovon Henny sprach, sie hatte die Leute um sich herum kaum wahrgenommen. Die Wahrheit war, dass sie an Männern nicht mehr interessiert war. Und Männer waren auch nicht mehr an ihr interessiert. Kaum einer sah sie auf der Straße noch an, keiner flirtete mit ihr (da konnte Henny erzählen, was sie wollte). Irgendetwas war mit ihr in den letzten Jahren geschehen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie war auf einmal unsichtbar geworden, jedenfalls für Männer. Aber eigentlich war das ganz gut so. Ihr Bedarf an Männern war ohnehin für die nächsten hundert Jahre gedeckt.
Flüchtig schaute sie auf die Auslagen im Schaufenster eines Sexshops. Riesige Dildos, bizarr geformte Stiefel, Lederdessous, die mehr zeigten als verbargen. Plötzlich kam ihr Arthur in den Sinn. Arthur mit seinen seltsam einseitigen sexuellen Bedürfnissen. Auch er hatte sie als Frau übersehen. Trotzdem hatte sie sich auf ihn eingelassen, seine Launen und Merkwürdigkeiten ausgehalten. Das lag vermutlich daran, dass er so wunderbar distanziert war. Arthur war ihr nie gefährlich geworden, zwischen ihnen hätten sich nie Gefühle entwickelt, die ihnen zum Verhängnis werden konnten. Das war sehr beruhigend. Ein Mann wie Arthur könnte Mia durchaus noch mal über den Weg laufen. Ein Mann, dessen Herz genauso kalt wie ihr eigenes geworden war.
8
Manchmal kamen Mia die stillen, einsamen Sonntage in ihrer kleinen Wohnung richtig unwirklich vor. Mit Frank war sie nie zur Ruhe gekommen. Damals war es für sie undenkbar, ein ganzes Wochenende lang nur zuhause zu verbringen. Sie waren ständig unterwegs gewesen und wie im Rausch von Event zu Event gesaust. Heute grauste ihr schon allein bei der Vorstellung daran. Wie hatte sie das nur geschafft? Wo hatte sie die Energie hergenommen?
Seit sie wieder arbeitete, brauchte sie den größten Teil des Wochenendes zum Schlafen, Einkaufen und Saubermachen. Wann hatte sie das früher alles erledigt? Lag es an ihr? Daran, dass sie mittlerweile eine Frau in den Vierzigern war?
Oder hatte vor allem Frank das bunte Treiben zu verantworten gehabt? War er der Motor, der Mia einfach immer mitgezogen hatte? Sie vermochte es nicht mehr zu sagen.
Der Kontakt zu all den kreativen, unkonventionellen Menschen, die sie durch Frank kennenlernte, inspirierte Mia. Sie hätte niemals alles aufgeben und sich ganz der Kunst verschreiben können, wie es einige ihrer Freunde taten. Aber sie träumte schon seit Jahren davon, ein Buch zu schreiben – genau genommen, seit ihre Patentante ihr einen Karton mit alten Tagebüchern vererbt hatte.
Die kleinen Hefte erzählten vom Leben ihrer Tante in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, von der Zeit in einem Potsdamer Internat, dem Krieg, ihrer Flucht aus
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