Ebbe und Glut
natürlich per Post schicken können, aber ihr waren selbst ein Briefumschlag und die Portokosten zu viel Verschwendung für Arthur.
»Den kannst du als Souvenir behalten«, sagte Annika. »Dein Macker hat garantiert noch einen Ersatzschlüssel und wird ihn nicht vermissen.«
»Er ist nicht mein Macker«, wehrte Mia ab.
Henny grinste breit. »Mal angenommen, Arthur hat nicht nur dich, sondern auch die Stadt verlassen, und sein Auto steht immer noch da, wo du es geparkt hast – dann könntest du jetzt frei darüber verfügen, oder?«
Mia starrte sie an, und auf einmal war sie wie elektrisiert. »Ja, das könnte ich«, sagte sie langsam. »Es ist ein ziemlich tolles Auto, hatte ich das schon erwähnt?«
Der silberne Mercedes stand noch genau da, wo Mia ihn geparkt hatte. Sie rissen die Türen auf und enterten den Wagen wie Piraten ein Schiff. Sie probierten alle Schalter und Hebel aus, die sie fanden, testeten den satten Sound der Lautsprecher, ließen den Wagen während der Fahrt automatisch die Geschwindigkeit regulieren, öffneten das Schiebedach so weit es ging und fuhren laut kreischend kreuz und quer durch die Stadt bis zur Autobahn.
An einer Tankstelle machten sie halt und kauften Chips und noch mehr Bier. Mia, die als Fahrerin keinen Alkohol mehr trank, war trotzdem so aufgekratzt, als sei sie betrunken. Bevor sie wieder in den Wagen einstieg, fuhr sie spielerisch mit dem Finger über den Mercedes-Stern, der auf der Kühlerhaube prangte. In jugendlichem Übermut hatte sie vor vielen Jahren mit Annika in einer denkwürdigen Nacht ein halbes Dutzend solcher Sterne von parkenden Autos entwendet und sie später zu Kettenanhängern und Ohrringen verarbeitet. Achtzehn waren sie damals. Oder neunzehn. Mia wusste es nicht mehr genau.
Annika und Henny beobachteten sie gespannt. Mit einem übermütigen Lachen und einer schnellen Bewegung brach Mia den Stern von Arthurs Auto ab. Annika und Henny johlten.
»Du meine Güte!«, sagte Annika, als Mia wieder hinter dem Steuer saß. »Dieser Kerl muss dich wirklich übel erwischt haben.«
»Wir benehmen uns wie Fünfzehnjährige«, kreischte Henny begeistert, als habe sie Mias Gedanken erraten.
»Wie angeschickerte Fünfzehnjährige«, ergänzte Annika und verschüttete prompt Bier auf dem makellosen Teppich, während Henny und Mia Zigaretten rauchten, deren Stummel sie in dem bis dahin unbenutzten Aschenbecher ausdrückten.
»Wie kann ein Mann bloß ein so schönes Auto aufgeben?«, fragte Annika. »Dieser Arthur muss wirklich krank sein.«
»Das glaube ich auch«, sagte Henny. »Der gibt nicht nur ein tolles Auto auf, sondern auch noch eine tolle Frau. Der hat sie doch echt nicht mehr alle.«
Mia trat aufs Gaspedal. Sie schossen über die leere Autobahn und lästerten dabei hemmungslos über Arthur und alle anderen Männer dieser Welt.
Doch der Rausch verflog, irgendwann waren sie ihr kindisches Gehabe selbst leid. Es war schon fast Mitternacht, Annika und Henny mussten am nächsten Morgen früh aufstehen, und auch Mias Zorn wich einer Ernüchterung, in der dieses ganze Theater nur noch sinnlos wirkte. Sie fuhr ihre Freundinnen nach Hause. Henny spuckte zum Abschied auf die Kühlerhaube. »Fahr zur Hölle, Arschloch!«, schrie sie, und Mia fragte sich besorgt, wer von ihnen hier eigentlich ein Problem hatte.
Langsam fuhr sie in die Hafencity und stellte den Mercedes wieder vor Arthurs Tür ab. Sie stieg aus, schloss den Wagen ab und fuhr mit einer Hand fast zärtlich die Kühlerhaube entlang. Fast schien es ihr, als würde sie Arthur dabei berühren.
Zuhause hängte sie den Mercedes-Stern an einem roten Band in eine ihrer Topfpflanzen. Aber sie fand keinen Gefallen an ihrer Trophäe. Stattdessen wurde sie traurig, wann immer sie den Stern anschaute.
Arthurs Zorn blieb aus. Er meldete sich nicht – weder in der nächsten, noch in der übernächsten Woche. Als Mia noch einmal an seinem Haus vorbei ging, stand der Mercedes immer noch da – ohne Stern auf der Kühlerhaube, aber mit Chipskrümeln zwischen den Sitzen. Beunruhigt fragte Mia sich, ob Arthur vielleicht doch etwas zugestoßen war. Das war doch nicht normal, dass ein Mann wochenlang einfach so verschwand.
Mit einer so harmlos wie möglich klingenden Stimme fragte sie Ulrich Hampel nach Arthur. Er teilte ihr mit, dass Arthur zurzeit viel im Ausland unterwegs sei und sie ihn am besten per Mail erreichen könne.
Da wusste sie, dass Arthurs Schweigen ganz allein ihr galt.
Henny und Dirk
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