Echo gluecklicher Tage - Roman
ein, so viele derb aussehende Männer auf so engem Raum zu sehen. Doch sie rief sich Sams Bild ins Gedächtnis, stellte sich vor, wie er vor ihr stand, so wie er es früher oft bei ihren Auftritten getan hatte. Und sie spielte nur für ihn.
Sie konnte sein Lächeln sehen, die Art, wie seine breiten Lippen sich an den Mundwinkeln hoben und wie auf seiner rechten Wange ein Grübchen erschien. Sie sah seine strahlend blauen Augen und wie er sich sein blondes Haar ungeduldig aus den Augen strich.
In Gedanken verließ sie den stickigen Saloon und kehrte zurück auf das Einwandererschiff, sah zu, wie er mit seinem Charme die Frauen umgarnte, und lachte mit ihm an Deck. Sie sah ihn in ihrem Zimmer in New York auf dem Bett liegen oder im Heaney’s hinter der Bar stehen, während ihm eine ganze Gruppe von Bowery-Huren schöne Augen machte.
Es dauerte eine Weile, bis ihr auffiel, dass es im Saloon nicht mehr laut war, und als sie die Augen öffnete, sah sie, dass einhundert oder noch mehr Männer sie anstarrten. Die meisten waren ungefähr in Sams Alter, aber sie hatten wettergegerbte Gesichter, die sie älter wirken ließen. Einige von ihnen trugen schicke Anzüge, glatte Hemden, Krawatten und Homburg-Hüte, andere waren hemdsärmelig und dreckig, ihre Hosen wurden von Trägern gehalten, und ihre breitkrempigen Hüte hätten einige Geschichten erzählen können. Es gab blasse Europäer, braungesichtige Südamerikaner, Schwarze und auch Indianer. Einige hatten zottelige Bärte oder Schnurrbärte, andere waren glatt rasiert. Und einige Frauen mischten sich ebenfalls in die Menge: eine hübsche, rundliche mit einem federgeschmückten Strohhut, eine andere, die Rosen auf ihrem trug; Frauen in Seide und Spitze, andere in den einfachen Baumwollsachen, in denen sie den mühevollen Weg hierhergekommen waren. Aber egal, wer sie waren, ob sie schon Gold gefunden hatten oder jemandem, der bereits auf welches gestoßen war, dabei halfen, es auszugeben – sie hörten ihr alle zu.
»Bravo!«, rief ein großer Mann in einem karierten Jackett, als sie die erste Nummer beendete. »Hör nicht auf, gib uns mehr!«
Es war nach eins, als Beth sich durch den Schlamm zurück zum Zelt kämpfte. Sie war erschöpft, aber zufrieden, sich in Dawson einen Namen gemacht zu haben, denn Jack Smith hatte behauptet, sie sei die beste Geigerin, die er jemals gehört habe.
Sie hatte keine Ahnung, wo Theo oder Jack waren. Während der ersten Stunde ihres Auftritts hatte sie die beiden noch im Monte Carlo gesehen, aber dann waren sie gegangen und nicht zurückgekehrt. Es hatte ihr nichts ausgemacht, denn in ihren Spielpausen gab es jede Menge Leute, die ihr etwas zu trinken ausgaben und ihr gerne Gesellschaft leisteten.
Der Himmel war so hell wie am Tag, und niemand schien auch nur an Schlaf zu denken, denn die schlammigen Wege zwischen den Zelten und Hütten waren voller Menschen. Über dem Lärm der Massen, die sich an der Front Street amüsierten, dem Lachen, den Unterhaltungen und dem Gläserklirren, konnte sie das Stampfen von Füßen auf einem Tanzboden, das Schnaufen einer mechanischen Orgel und ein Saxofon hören, das eine schwermütige Ballade spielte.
Man hatte ihr erzählt, dass in Dawson City bis acht Uhr morgens etwas los sei, und sie fand das verständlich an einem Ort, wo man von September bis Ende Mai durch Schnee und Eis von der Außenwelt abgeschnitten war.
Um ihre Taille hing ein Lederbeutel, den ihr jemand zugeworfen hatte und der eine Menge Goldstaub enthielt. Sie hatte das kleine Vermögen an Geldscheinen und Geldstücken mit hineingetan, die für sie gesammelt worden waren. Während sie ging, stieß er klimpernd gegen ihre Hüfte und ließ sie zufrieden lächeln. Geld und Erfolg konnten den Tod ihres Bruders nicht wettmachen oder sie dazu bringen, ihn weniger zu vermissen, aber heute Abend hatte sich die dunkle Wolke der Trauer so weit zurückgezogen, dass sie wieder leben wollte.
Eine Woche später wurde Beth um vier Uhr morgens von Wilbur, einem der Barkeeper aus dem Monte Carlo, die Front Street zurück zu ihrem Zelt begleitet.
»Sieht aus, als gäbe es heute ein Spiel mit hohen Einsätzen im Golden Horse Shoe.« Er deutete auf eine Menschentraube, die vor einem Saloon etwas weiter die Straße hinauf stand. »Ich wette, Mack Dundridge spielt dort heute Abend. Die Leute wollen ihm immer beim Kartenspielen zusehen; wenn er gewinnt, gibt er allen einen aus.«
Beth lächelte Wilbur an, denn der große, schlaksige junge
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