Echo Park
Gabriel Williams in beiden Zeitungen ausgiebig zitiert. Er bezeichnete den Zwischenfall als unverzeihlich und suchte die Schuld ausschließlich bei O’Shea. Bosch dachte an die verschwundene Videokassette und fragte sich, wie viel sie dem Williams-Lager wert wäre. Vielleicht, dachte er, hatte das Corvin, der Kameramann, bereits herausgefunden.
In beiden Blättern kam Irvin Irving ausgiebig zu Wort, und er nutzte diese Gelegenheit, um kräftig auszuteilen, insbesondere gegen Bosch, den er als den Inbegriff all dessen hinstellte, was bei der Polizei im Argen lag und was er, Irving, als Stadtrat ändern würde. Er erklärte, Bosch hätte im Jahr zuvor nicht wieder in den Polizeidienst übernommen werden dürfen und er, Irving, damals noch Deputy Chief, habe sich mit allem Nachdruck dagegen ausgesprochen. Beide Zeitungen schrieben, die OIS-Einheit des LAPD ermittle gegen Bosch, der für einen Kommentar nicht erreichbar sei. Keine befand es jedoch für nötig, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die OIS grundsätzlich bei jeder Schießerei ermittelte, in die ein Polizeiangehöriger verwickelt war. Dadurch wurde der Eindruck erweckt, dass das, was der Öffentlichkeit hier mitgeteilt wurde, ungewöhnlich und daher per se suspekt war.
Bosch stellte fest, dass der Begleitartikel in der Times von Keisha Russell stammte, die mehrere Jahre Polizeireporterin gewesen war, bevor ihr Burnout solche Ausmaße annahm, dass sie sich für ein neues Ressort bewarb. Darauf landete sie in der Politikredaktion, die unter anderem für ihre hohe Burnout-Rate bekannt war. Sie hatte am Abend zuvor bei Bosch angerufen und ihm eine Nachricht hinterlassen, aber ihm war nicht danach gewesen, mit einem Journalisten zu sprechen, auch nicht mit einem, dem er traute.
Er hatte ihre Nummern immer noch in seinem Handy gespeichert. Als sie noch Polizeireporterin war, hatte er ihr bei mehreren Fällen als Quelle gedient, und als Gegenleistung hatte auch sie ihm mehrere Male geholfen. Er legte die Zeitungen beiseite und machte sich über seinen French Toast her. Auf seinem Frühstück waren sowohl Puderzucker als auch Ahornsirup, und er wusste, das Zucker-High würde ihm helfen, den Tag anzupacken.
Als er sein Frühstück etwa zur Hälfte gegessen hatte, holte er sein Handy heraus und rief die Reporterin an. Sie ging sofort dran.
»Keisha«, sagte er. »Hier Harry Bosch.«
»Harry Bosch«, sagte sie. »Lange nichts mehr voneinander gehört.«
»Na ja, wo Sie jetzt im Ressort Politik eine ganz große Nummer sind …«
»Ah, aber hier haben wir es doch mit einem ziemlich heftigen Crash zwischen Politik und Polizei zu tun, oder nicht? Wieso haben Sie gestern nicht zurückgerufen?«
»Weil Sie genau wissen, dass ich mich nicht zu einem laufenden Ermittlungsverfahren äußern darf, insbesondere wenn ich selbst Gegenstand dieser Ermittlungen bin. Außerdem haben Sie angerufen, nachdem mein Akku leer war. Ich habe Ihre Nachricht erst erhalten, als ich nach Hause kam, und das war wahrscheinlich nach Ihrer Abgabefrist.«
»Wie geht es Ihrer Partnerin?« Nach dem einleitenden Gefrotzel schlug sie jetzt einen ernsteren Ton an.
»Sie scheint durchzukommen.«
»Und Sie sind ungeschoren davongekommen?«
»In körperlicher Hinsicht, ja.«
»Aber nicht in politischer.«
»Das ist richtig.«
»Also, der Artikel steht bereits in der Zeitung. Jetzt anzurufen, um einen Kommentar abzugeben und sich zu rechtfertigen, bringt wohl nicht mehr viel.«
»Ich rufe nicht an, um irgendeinen Kommentar abzugeben oder mich zu rechtfertigen. Ich sehe meinen Namen nicht gern in der Zeitung.«
»Ach, jetzt verstehe ich. Sie wollen mir inoffiziell etwas stecken und in dieser Sache mein Deep Throat werden.«
»Nicht ganz.«
Er hörte, wie sie frustriert den Atem entweichen ließ.
»Warum rufen Sie dann an, Harry?«
»Erstens freue ich mich immer, Ihre Stimme zu hören, Keisha. Das wissen Sie. Und zweitens haben Sie in der Politikredaktion wahrscheinlich einen heißen Draht zu allen Kandidaten. Sie wissen schon, damit Sie von ihnen umgehend einen Kommentar zu jedem Thema einholen können, das im Laufe eines Tages aktuell wird. Habe ich recht? Genau wie gestern?«
Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort und versuchte auszuloten, wohin das führen würde.
»Ja, es ist allgemein bekannt, dass wir bestimmte Leute umgehend erreichen können, wenn sich das als nötig erweist. Mit Ausnahme bestimmter störrischer Detectives. Die können manchmal ganz schön
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