Echt? In der DDR gab's mehrere Parteien? - Ein Ossi und ein Wessi beginnen einen Dialog (German Edition)
Leuchtlämpchen genau verfolgen können, wie lang das von mir vermittelte Gespräch in den Betrieb hinein dauert, wann es zu lange dauert und konnte noch mehr Gespräche auf einen Apparat legen. Das heißt, in dem Moment, in dem du auflegst, klingelt gleich der Nächste. Meine schönste Situation war die Vermittlung eines Westgespräches. Der Teilnehmer aus dem westlichen Cuxhaven hatte ein Problem mit den Damen aus unserer Versandabteilung zu besprechen. Leider war der Anschluss gerade besetzt. So habe ich das Westgespräch auf den Apparat „Versand" gelegt und hoffte, das laufende Gespräch sei bald beendet. Als es mir zu lange dauerte, hörte ich mit. Offiziell war uns das erlaubt und es gab die Anweisung, Privatgespräche ohne Ankündigung sofort zu beenden. Dies war eine schwierige Situation. Ich kannte alle Kolleginnen im Betrieb und außerdem hatte so gut wie niemand zu Hause ein Telefon. Also wurden Betriebstelefone oft für private Gespräche genutzt. Ich hörte also in das Gespräch hinein und wurde Zeuge, wie eine junge Mutter ihrer Mutter stolz verkündete, dass der Sprössling endlich seinen ersten Zahn bekommen hatte. Wortlos beendete ich das Gespräch und der Teilnehmer aus Cuxhaven bekam die Dame vom Versand.
Das war alles ziemlich einfach. Schwierig wurde es, wenn der Klassenfeind aus Cuxhaven anrief und ich das Gespräch nicht vermitteln konnte. Ich erhielt zuvor eine exakte Schulung, was ich mit den Leuten aus Cuxhaven reden durfte und was nicht. Ich durfte auch nur an ganz wenige Leute innerhalb des Betriebes das Gespräch weitergeben. Manchmal war es lachhaft, aber ich hatte halt meine Anweisungen.
Daniel: Welches Produkt habt ihr denn an den Klassenfeind geliefert? Und wie genau muss ich mir den Inhalt so einer Schulung vorstellen? Gab es irgendwelche typischen Formulierungen, die du immer sagen musstest?
Christian: Wir waren der größte Arbeitgeber der Region. VEB Fischfabrik nannten wir uns und produzierten Fisch in Dosen. Berühmt waren wir im Westen vor allem für unseren Fisch in Rotweinsoße. Als diese Produktionslinie eröffnet wurde, wurde bei uns so viel Rotwein schwarz verkauft, wenn ich darüber ein Buch schreiben würde, ich glaube niemand würde das heute noch glauben. Fertige Fischdosen haben alle von uns geklaut und draußen weiterverkauft, ich auch. Der Grund: Wir wollten auch mal diesen Fisch essen. Zu kaufen gab es den bei uns ja nicht. Der wurde nur für den Export ins kapitalistische Ausland produziert.
Politik war das wichtigste in der Schulung. Es ging um die Direktiven und Hauptaufgaben des letzten Parteitages der SED. Es ging um Wirtschaftsfragen und es ging natürlich um das Verhalten gegenüber Westpartnern. Ich war nicht der einzige Telefonist im Betrieb. Wir arbeiteten im Dreischichtsystem und dies ebenfalls an den Wochenenden. Wir unterstanden direkt dem Sicherheitsinspektor, der demnächst in Rente gehen wollte. Nach Direktor und Produktionsleiter war so ein Sicherheitsinspektor ein sehr wichtiger Mann. Der gesamte Brandschutz des Betriebes lag in seinen Händen, aber auch für die Schulungen mit der Waffe in der Hand hatte er zu sorgen.
Daniel: Schulungen an Waffen? Was für ein Betrieb war das noch mal? Oder habt ihr alle für den Ernstfall einer Westinvasion trainieren müssen – auch die Telefonisten?
Christian: Ach du, lieber Daniel, ob ein Wessi jemals den DDR-Alltag verstehen kann? Hast du jemals etwas von der ZV in großen VEB's oder unseren Kombinaten gehört? Die Zivilverteidigung war eine feste Größe in solchen Betrieben. Die Mitglieder dieser Einheiten hatten gut ausgebildet zu sein. Natürlich für große Havarien, aber auch wenn du als böser kapitalistischer Klassenfeind bei uns einmarschiert wärst. Wir hatten Maschinenpistolen und Handgranaten. Wir hätten dich schon verscheucht, keine Angst! Diese Einheiten hätten dann mir unterstanden.
Eines Tages schickte der Sicherheitsinspektor eine seiner Mitarbeiterinnen zu mir. Erst hatte ich gar nicht kapiert, was sie von mir wollte. Sie lobte mich, weil ich so verantwortungsbewusst arbeite. Und sie würde mich sehr gern zur Weiterbildung in die benachbarte Kreisstadt Güstrow schicken. Warum – ich weiß es heute nicht mehr, auf alle Fälle habe ich „ja“ zur Weiterbildung gesagt. Nach einiger Zeit, ich war wöchentlich immer für einen Tag zur Weiterbildung gefahren, kam dann plötzlich der Sicherheitsinspektor persönlich in meine Pförtnerbude und erzählte mir, dass er
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