Echte Biester: Roman (German Edition)
davon abgeraten, zu oft zu telefonieren. »Es kostet rund zehn Dollar pro Minute«, rief er seinem Dad in Erinnerung. »Außerdem ist es in Schanghai jetzt später Abend.«
»Leg endlich diesen blöden Taschenrechner weg«, sagte Mickey mürrisch. »Überlass es ruhig mir, mich mit der Punktpunktpunkt-Bank herumzuschlagen.«
Wahoos Mom, die es hasste, wenn jemand fluchte, zwang seinen Vater jedes Mal, wenn er ein schlimmes Wort sagte, einen Dollar in die Keksdose zu werfen. Deshalb hatte Mickey es sich angewöhnt, stattdessen das Wort »punktpunktpunkt« zu benutzen, weil in manchen Büchern derbe Ausdrücke durch Pünktchen ersetzt wurden.
»Ich will doch nicht herumschnüffeln, Pop«, erwiderte Wahoo.
Er hatte einen Schulfreund, dessen Eltern ihr Haus hatten aufgeben müssen, weil sie die Raten nicht mehr bezahlen konnten. Jetzt wohnte die ganze Familie in einem kleinen, engen Apartment in Naranja. Wahoo wusste, dass seine Mutter unbedingt verhindern wollte, dass auch ihnen so etwas passierte – deshalb hatte sie den Job in China angenommen.
Trotzdem machte er sich Sorgen.
»Jetzt entspann dich mal. Wir kommen schon zurecht«, sagte Mickey. Nachdem er sich die Fernbedienung geschnappt hatte, legte er sich wieder hin und zappte durch die Kanäle, bis er auf eine Sendung mit dem Titel Wenn Tiere durchdrehen stieß. In der ersten Episode ging es um eine ausgeflippte Kanadagans, die einen Müllwagen attackierte. Mickey brachte noch nicht einmal ein Schmunzeln zustande, da er mit seinen Gedanken ganz woanders war.
Es beunruhigte Wahoo, dass sein Vater so teilnahmslos und weggetreten war. Er zog sich eine Regenjacke über und ging nach draußen.
Regen machte die Tiere immer schläfrig, deshalb war in den Käfigen und Gehegen alles ruhig. Das TV-Team hatte seine Ausrüstung verstaut und war zum Lunch gegangen. Der Regen rauschte so laut, dass nur das Brummen von Derek Badgers Riesenwohnmobil zu hören war. Als Wahoo an dem Fahrzeug vorbeikam, sah er durch eines der Fenster und erblickte Derek, der zusammen mit Raven Stark vor einem Spiegel stand. Sie tupfte ihm gerade mit einem Papiertuch Make-up auf die Nase, zweifellos um die Stelle zu verbergen, wo die Schildkröte ihn gebissen hatte. Wahoo grinste in sich hinein und ging weiter.
Alice der Alligator ließ sich gemütlich im Wasser des nachgemachten Everglades-Teichs treiben. Er war dreimal so groß wie ein Standardswimmingpool und zweimal so tief. Zusammen mit zwei Freunden hatte Mickey Cray die Grube selbst ausgeschachtet und anschließend mit Spritzbeton verkleidet. Wahoo, der damals erst fünf gewesen war, hatte mitschippen dürfen.
»Hey, Mädchen«, sagte er zu Alice und winkte ihr mit seiner daumenlosen Hand zu, ein Witz, der nur sie beide etwas anging.
Wenn Neue in die Schule kamen, starrten sie den vernarbten Knubbel an Wahoos rechter Hand immer an und fragten ihn, was da passiert sei. Am Anfang wollten sie die Geschichte nie glauben, doch später gierten sie dann nach allen blutigen Einzelheiten. Seine Klassenkameraden waren immer wieder von Neuem fasziniert, wenn er ihnen erzählte, dass er im ersten Moment gar keinen Schmerz gespürt habe.
Tatsächlich hatte Wahoo erst gemerkt, dass etwas nicht stimmte, als Paulette, das Mädchen, das er hatte beeindrucken wollen, kreischte und umkippte. Erst da hatte Wahoo auf seine Hand geblickt und festgestellt, dass sich dort, wo sein gesunder Daumen gesessen hatte, nichts als eine blutige Vertiefung befand.
Er hatte sich sein Sweatshirt um die Hand gewickelt und war ins Haus gerannt, während Alice zufrieden ihr Hühnchen und die unerwartete Vorspeise mampfte. Als schließlich die Ambulanz eintraf, hatte Wahoo unerträgliche Schmerzen.
Er sah Paulette nie wieder. Ihre Eltern meldeten sie an einer Privatschule an, wo die Jungs aus normalen Familien kamen und Hamster oder Goldfische, aber keine riesigen, fleischfressenden Reptilien als Haustiere hatten. Das konnte Wahoo vollauf verstehen.
Trotzdem hätte er sein Leben gegen kein anderes eintauschen wollen.
Nachdem er sich von Alice verabschiedet hatte, sah er nach dem jungen Rotluchs, der immer noch ziemlich verstört war. Sein Dad trottete an ihm vorüber, trotz des Regens ohne Hut, und zeigte auf den Alligatorteich. Wahoo redete beruhigend auf die Wildkatze ein, die ihn misstrauisch beäugte.
Als der Regen endlich nachließ, betätigte jemand im Wohnmobil das lächerlich laute Signalhorn, das sich anhörte wie die Sirene eines Schleppers auf dem
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