Echte Biester: Roman (German Edition)
Schuldgefühlen erfüllt, weil sein eigenes Leben so schön und unkompliziert war. Im Vergleich zu Tunas Welt war die von Wahoo das reinste Paradies, wie ein langer Tag am Strand. In seiner Familie betrank sich niemand und randalierte. Außerdem wurde er nie verprügelt.
»Komm sofort aus dem Regen, Herrgott noch mal!«
»Was?« Als Wahoo aufblickte, bemerkte er, dass er mitten im Hauptlager stand.
Raven Stark winkte ihn unter die große Plane, die die Catering-Firma aufgestellt hatte. Dort war fast das gesamte Team versammelt, um das Ende des Unwetters abzuwarten, das es aus unerfindlichen Gründen nicht geschafft hatte, auch nur ein einziges rotes Haar auf Ravens Kopf in Unordnung zu bringen.
»Was soll denn das?«, fragte sie Wahoo. »Das hätte uns gerade noch gefehlt, dass du von einem Blitz verbrutzelt wirst. Dein verrückter Vater würde uns sofort verklagen.«
Wahoo war immer noch bedrückt und benommen. »Wo ist Mr. Badger?«
»Da drinnen.« Raven zeigte auf ein weißes sechseckiges Zelt, das von Windstößen gebeutelt wurde. Der Eingang war fest verschlossen. »Wenn das Gewitter vorüber ist, kommt er wieder raus«, sagte sie. »Hier, zieh das an, sonst erkältest du dich.«
Sie gab Wahoo eine glänzende blaue Regenjacke, auf der in Goldbuchstaben das Logo von Expedition Überleben! prangte. Er zog sein tropfnasses Shirt aus und schlang sich die Jacke um die nackten Schultern.
Auf einem Tisch in der Nähe lag ein Telefon in einem schwarzen, wasserdicht aussehenden Etui.
»Bekommen Sie hier draußen eine Verbindung?«, fragte Wahoo.
»Das ist ein Satellitentelefon, mein Lieber«, erwiderte Raven. »Das könnte ich sogar auf dem Mount Everest benutzen.«
»Dürfte ich es mir mal ausleihen?«
Die Bitte schien sie zu amüsieren. »Wen willst du denn anrufen?«
»Bitte!«
»Setz dich erst mal, junger Mann.«
Während sie ihm die Haare abtrocknete, kramte Wahoo in seinen Taschen herum, bis er den Zettel mit der Nummer gefunden hatte. Damit das Papier nicht riss, faltete er den nass gewordenen Zettel ganz vorsichtig auseinander.
Raven holte das Telefon aus der Hülle und schaltete es an.
»Ich bezahle den Anruf auch«, sagte Wahoo.
»Mach dir darüber keine Sorgen. Das Telefon gehört der Produktionsfirma.«
Er gab ihr den Zettel mit der Nummer. »Das ist in China«, flüsterte er. »Ziehen Sie das Geld von meinem Honorar ab, egal, was der Anruf kostet.«
Sie lächelte skeptisch. »Wen kennst du denn in China?«
»Meine Mom. Sie arbeitet dort.«
»Als was?«
»Als Sprachlehrerin.«
Glücklicherweise schien Raven ihm zu glauben. Sie blickte auf ihre Armbanduhr und sagte: »In dem Teil der Welt ist es jetzt Nacht. Wahrscheinlich schläft deine Mutter gerade.«
Wahoo nickte. »Ja, ich weiß. Bitte!«
Das Unwetter zog nach Osten ab, der Regen ließ nach und es nieselte nur noch.
Raven wählte die Nummer. »Ich will dir mal ein Geheimnis verraten«, sagte sie. »Mit diesem Telefon rufe ich jeden Tag meine Mom an, ganz gleich, wo ich gerade bin.«
»Und wo wohnt sie?«, erkundigte sich Wahoo. Ravens Akzent ließ ihn vermuten, dass es sich um irgendein exotisches Land wie Südafrika oder Neuseeland handelte.
»In Fairhope, Alabama«, antwortete Raven.
»Wie jemand aus Alabama hören Sie sich aber nicht gerade an.«
Sie reichte ihm das Telefon. »Zehn Minuten, okay?«
Susan Cray schlief nicht, sondern saß aufrecht im Bett und starrte das unförmige, altmodische Telefon in ihrem Hotelzimmer an. Als es klingelte, wusste sie sofort, wer anrief.
Schon als Wahoo ein kleiner Junge gewesen war, hatten er und seine Mom einen besonderen mentalen Draht zueinander gehabt, den man fast telepathisch nennen konnte. Als er eines Tages auf dem Spielplatz seines Kindergartens hingefallen war und sich eine schlimme Platzwunde am Kopf zugezogen hatte, war Susan Cray noch vor dem Krankenwagen im Kindergarten eingetroffen – sogar noch bevor die Erzieherin bei ihr anrufen konnte. Später hatte Susan ihrem Sohn gestanden, dass sie plötzlich von einer unerklärlichen Angst befallen worden sei und sofort gewusst habe, dass er sie brauchte.
Genau das Gleiche war an jenem Nachmittag passiert, als Alice Wahoo versehentlich den Daumen abgebissen hatte. Susan Cray war unmittelbar nach der Ambulanz zu Hause angekommen – ohne dass jemand sie angerufen hätte.
Als sie jetzt in Schanghai den Hörer abnahm, war ihre erste Frage: »Was ist passiert?«
»Gar nichts, Mom. Ich wollte nur mal Hallo sagen.«
»Das ist
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