Ecstasy: Drei Romanzen mit chemischen Zusätzen (German Edition)
eines unwillkürlichen Interesses.– Ich will dich aber nicht küssen, verdammt noch mal, fuhr sie ihn mit klischeehafter Punk-Rotzigkeit an. Das klang genauso künstlich, wie Andreas’ Aufmachung aussah.
– Das macht mich aber traurig, meinte Andreas, und er sah auch traurig aus.– Ich spüre, dass du ein sehr zorniger Mensch bist, ja?
– Du tust was ?, fragte sie, wirklich getroffen und auch wieder fasziniert von seiner hartnäckigen Aufdringlichkeit.
– Wie ich mir gedacht habe. Das ist richtig so. Zorn ist richtig. Aber wenn er zu lange anhält, kann er schlecht werden, ja? Das Schlechte in einem drin. Ich weiß alles darüber. Aber wie heißt es doch: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Schon mal gehört?
– Ja.
Samantha hatte schon früher andere Tenazadrinkinder getroffen. Es war jedes Mal grenzenlos peinlich gewesen. Ein Gesprächsthema– ihre Deformation– drängte sich auf. Wie hätte man sie ignorieren können, wie hätte man sie nicht ignorieren können? Sie hing wie eine schwarze Wolke über jedem harmlosen Gespräch. Aber noch schlimmer: Ein Teil von ihr hasste die anderen. Sie erinnerten sie daran, wie sie selbst aussah, und wie der Rest der Welt sie wahrnehmen musste. Jemand mit einem Defizit: einem Defizit an Armen. Und wenn die Leute einem erst das Etikett »behindert« verpasst hatten, verallgemeinerten sie es gern und bezogen es auf alle Bereiche: Intellekt, Glück, Hoffnung. Andreas allerdings flößte ihr nicht dieses Gefühl von Unbehagen oder Abscheu ein. Von einem Defizit war bei ihm nichts zu spüren, von seiner körperlichen Erscheinung abgesehen. Im Gegenteil, er schien eher von allem zu viel zu haben: Er floss förmlich über vor Selbstbewusstsein. Während sie gelernt hatte, ihre Ängste mit Gehässigkeiten zu tarnen, sah sie in ihm jemanden, der es mit der Welt aufnahm, ohne sich von ihr die Regeln diktieren zu lassen.
– Gehst du heute Abend ins Vortex?
– Vielleicht, hörte sie sich antworten. Sie mochte das Vortex nicht und hasste das Publikum dort. Sie wusste nicht mal, wer heute dort spielen würde.
– 999 spielen. Ist eine ziemlich lausige Band, aber wenn du voll mit Speed und Bier bist, ist eine wie die andere, ja?
– Tja, stimmt schon.
– Ich heiße Andreas.
– Ja, antwortete sie schroff, dann kapitulierte sie vor seinen fragend hochgezogenen Augenbrauen, die ihm ein leicht bizarres Aussehen gaben,– Sam. Nicht Samantha, verstanden? Sam.
– Samantha ist besser. Sam ist ein Name für Männer, nicht für hübsche Mädchen. Lass dir nichts wegnehmen, Samantha. Nicht schon wieder.
Ein Anflug von Ärger durchzuckte sie. Für wen hielt der sich? Sie wollte gerade antworten, als er sagte:– Samantha … du bist sehr nett. Wir müssen uns unbedingt um acht im Ship in der Wardour Street treffen. Ja?
– Na, mal sehen, meinte Samantha, obwohl sie wusste, dass sie da sein würde. Sie blickte in seine Augen. Was sie darin sah, wirkte stark und warm auf sie. Dann fand sie, dass sie gegen sein pinkfarbenes Haar geradezu lächerlich blau aussahen.
– Bist du im Londoner Zoo eingebrochen oder so was? Was machst du mit dem beschissenen Flamingo auf dem Kopf?
Andreas sah sie fragend an. Samantha meinte kurz eine Andeutung wilden Zorns auf seinem Gesicht zu sehen, ehe es wieder zu so völligem Gleichmut zurückfand, dass sie glaubte, sie müsse es sich eingebildet haben.– Ich verstehe … ein Flamingo. Samantha hat einen Witz gemacht, ja?
– Verstehst du keinen Spaß, oder was?
– Du bist sehr jung, Samantha, sehr jung, stellte Andreas fest.
– Wovon redest du? Ich bin genauso alt wie du. Wir können nur ein paar Wochen auseinander sein.
– Ich bin auch sehr jung. Ich rede aber von Reife.
Sie wollte wieder der Wut nachgeben, die in ihr hochstieg, aber da stand Andreas auf.– Jetzt gehe ich. Aber vorher bekomme ich meinen Kuss, ja?
Samantha rührte sich nicht, als er sich vorbeugte und sie auf den Mund küsste. Es war ein zärtlicher Kuss. Er verharrte kurz so, und sie fühlte, wie sie ihn zaghaft erwiderte. Dann löste er sich.– Acht ist gut, ja?
– Ja, sagte sie, und dann war er fort. Sie blieb mit sich alleine und war sich dessen schmerzhaft bewusst. Sie wusste, was alle anderen dachten: zwei Tenazadrinis, die sich küssen.
Na ja, dachte Samantha, wenigstens wird er kaum hinter meiner Entschädigung her sein.
Kurz darauf ging sie, schlenderte ziellos die Charing Cross Road entlang, bog ab zum Soho Square und legte sich wie die
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