Ed King
Gedankenleser auf, der den Kopfschmuck von Johnny Carson als »Carnac the Magnificent« trug, aber als »Der Mann mit der außersinnlichen Wahrnehmung« auftrat und der einzelne Gäste nach ihrem Vornamen fragte, um sie anschließend mit ihrem Geburtsdatum oder dem Namen des Ex-Ehepartners zu verblüffen. »Der flammende Transvestit«, der ein Flammentrikot der Seattle Seahawks trug, vollführte ein wahrhaft erstaunliches Kunststück. Eine Assistentin schlug für den Bruchteil einer Sekunde eine Art psychedelisches Zelt über ihm auf, und er kam als Carmen Miranda mit einer Melone in ihrem Hut zum Vorschein. Wieder verschwand er eine Millisekunde unter dem Zelt und verwandelte sich in den Indianer der Village People. Beim dritten Mal war er Schneewittchen, einschließlich des Apfels in der Hand. Ed ging weiter. Es gab eine Wahrsagerin mit einer glitzernden Kristallkugel, die in einem schwarzen Zelt mit aufgemalten Sternen saß, eine halbstündlich stattfindende Séance auf dem Dachboden und einen Wintergarten, vollgestopft mit Video-Spielautomaten. Ein Mann mit Schnauzbart lehnte mit viktorianischer Steifheit an einem Kaminsims und rezitierte im Licht eines Kandelabers Poes Der Rabe . In den Treppenaufgängen verteilten Prophecy-Angestellte kostenlose Mousepads. Ein als Haudegen verkleideter Mann warf Messer auf ein Mädchen in Strapsen und Zylinder. In einem fast dunklen Raum, in dem leise Orgelmusik spielte, lag ein bleicher Kerl in einem Sarg und starrte einen mit weit aufgerissenen Augen an. In einem anderen stieß Ed auf Dracula, der einem Mädchen im Nachthemd in den Hals biss. Nebenan sprengte ein grün bemalter Bodybuilder wie Hulk seine Kleidung und ließ zu dem Song The Monster Mash seine Muskeln spielen. Und schließlich war da noch die Frau, die in einer protzigen Bibliothek im dritten Stock Tarotkarten legte.
Der Raum war seltsam. Die Bücher standen dicht gedrängt in mächtigen Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten und von indirekten roten Leuchten angestrahlt wurden. Es waren ausnahmslos große, antik wirkende Folianten, die meisten davon in lateinischer Sprache, obwohl Ed bei genauerem Hinsehen auch einige Bücher auf Sanskrit, Griechisch, Arabisch und Farsi entdeckte. Leitern an Laufschienen ermöglichten den Zugriff auf die oberen Regale. Der riesige Lüster an der Decke war mehr als nur überdimensioniert, er beherrschte den Raum wie ein Modell der Sonne, ein glitzernder, goldener Ball rotierender Lichter, die eine Art Stroboskopeffekt erzeugten, sodass die Bücher von Lichtblitzen angestrahlt wurden und wieder in der Dunkelheit verschwanden. In einem auf Hochglanz polierten Schaukasten mit drei Glasböden lagen so etwas wie Amulette aus dem Gebiet des »Fruchtbaren Halbmonds«, und ein entsprechendes Gegenstück auf der anderen Seite des Raums war mit mittelalterlichem Zeug vollgestopft, das Ed mit Alchemie in Verbindung brachte – einem Destillierkolben, einem kleinen Brennofen, einem eisernen Dreifuß, Mörser und Stößel, einem Verdampfungsapparat und ein paar trüben Tinkturfläschchen. Inmitten all dessen hielt eine in Pashminaschals gewickelte Tarotleserin an einem niedrigen Tisch Hof, umrahmt von zwei brennenden Weihrauchgefäßen. In dem wirbelnden Stroboskopgeflimmer war sie nur schwer auszumachen. Für Gegenstände in unmittelbarer Nähe reichte das Licht, aber alles andere blieb auf eine unwirkliche und quälende Weise schemenhaft. Zwischen den jähen Lichtblitzen und den sich ausbreitenden Weihrauchschwaden, die nach verbrannter Erde rochen und seine Kontaktlinsen austrockneten, sah Ed die Tarotleserin wie durch fließendes Wasser oder wie in einem trübe beleuchteten Saal voller Zerrspiegel. »Ich bin nicht hier, um mir die Karten legen zu lassen«, sagte er. »Ich sehe mich bloß um.«
»Es kostet nichts«, sagte die Kartenleserin in einer schnellen Folge abgehackter Standbilder. »Und es dauert auch nur ein paar Minuten. Die meisten Leute sagen nachher, es habe Spaß gemacht, aber ich bin noch die ganze Nacht hier, wenn du es dir später anders überlegst.«
Ed hatte keine Lust, die Karten gelegt zu bekommen, er hatte einfach nur aus Neugier den Kopf in die Tür gesteckt. Aber anders als die Schaufensterpuppe mit dem Spanakopita-Tablett und die shamisenspielende Morticia Addams war dies die erste Frau an diesem Abend, die ihn anzog. Unter ihrer Sammlung fest gewickelter Pashminas mochte sie Ende dreißig oder Anfang vierzig sein. So viel konnte er in dem Lichtgewitter
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