Ed Loy - 01 - Blut von meinem Blut
ihm nicht das gegeben, was es einmal versprochen hatte. Auf jeden Fall hätte keiner, der John Dawson vor Jahren kannte, damit gerechnet, dass er einmal so aussehen würde.
Ich wartete draußen vor der Kirche auf die Familie, aber es hatte keinen Sinn: Barbara Dawson schob Linda energisch auf den Rücksitz einer schwarzen Limousine. John Dawson, einen schwarzen Filzhut auf dem Kopf, schaute verwirrt umher, aber bevor noch jemand auf die Idee kommen konnte, sich ihm zu nähern, war Barbara schon neben ihm und führte ihn in den sicheren Hafen des Wagens. Dann stieg sie selbst ein, die Türen schlossen sich hinter ihnen, und die getönten Scheiben verstärkten den Eindruck vollkommener Schwärze. Die Limousine wartete, bis sich der Leichenwagen in Bewegung gesetzt hatte, dann folgte sie ihm langsam, ein schwarzer Schatten im grellen Sonnenlicht.
* **
Vor der Kirche traf ich Dave Donnelly und schlug ihm vor, ein Pint im Hennessy’s zu trinken.
»Das war doch mal was. Und danach noch einen Joint hinterm Haus«, sagte er und gab dabei ein Geräusch von sich, das entfernt an Lachen erinnerte.
»Wir müssen reden, Dave. Jetzt.«
»In zehn Minuten im Darm, okay?«, sagte Dave, drehte sich um und ging.
Der »Darm« gehörte zu den Geheimplätzen unserer Kindheit. Drei gewaltige Eichen formten die Eckpunkte eines großen Dreiecks aus wild wachsendem Gestrüpp, Disteln, Weißdorn, Farn und wuchernden Sporenpilzen, das auf der einen Seite von den Bahnschienen und auf den beiden anderen Seiten von den Gartenmauern der Neubausiedlungen begrenzt wurde. Um dorthin zu kommen, musste man sich durch ein Loch in der Hecke zwängen oder die mit Glasscherben gespickte Mauer neben den Schienen überwinden. Aber sobald man dort war, war alles möglich: die erste Zigarette, das erste Bier, der erste Joint, der erste Kuss und mehr Prügeleien, als man zählen konnte. Mit vierzehn hatten Tommy Owens und ich dort unsere Unschuld an zwei mürrische Mädchen aus Seafield verloren, die uns hinterher gedroht hatten, wenn wir irgendwem davon erzählten, würden ihre Brüder uns die Eier abschneiden. Und nachdem die Sache selbst auch nicht sonderlich erfüllend war, hatten wir beide das Gefühl gehabt, eigentlich gar nicht richtig entjungfert worden zu sein. Später fand ich heraus, dass es den meisten Leuten ähnlich gegangen war, selbst wenn sie es nicht auf einem Baumstumpf gemacht hatten. Charlie Halpins Bruder hatte sich mit siebzehn an der ältesten der drei Eichen erhängt, und Marko Hendersons Bruder Barreller hatte hier irgendwas mit Masken und kleinen Kindern getrieben – ich habe nie erfahren, was genau, aber es brachte ihm fünf Jahre Knast ein. Als Tommy zu mir nach L. A. kam, war er gerade vorher auf Barrellers Beerdigung gewesen. Er hatte sich mit Benzin übergossen und ein Streichholz angezündet. Wo? Im Darm natürlich. Tommy hatte mir mal erzählt, der Darm heiße so, weil er sich genau in der Mitte zwischen Castlehill und dem Meer befinde. Alle Giftstoffe aus der Gegend müssten da durch, um entweder umgewandelt oder zerstört zu werden, was ich allerdings für eine Privatinterpretation von Tommy halte.
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass vom Darm kaum noch etwas übrig sein würde, bis auf das eine oder andere Dornengestrüpp vielleicht, das im Blumenbeet neben einem Reihenhausrasen Halt suchte. Aber da lag er in seiner ganzen verkommenen, ursprünglichen Pracht. Ringsum war eine Wand aus Eschen und Holunderbüschen gewachsen, die inzwischen so hoch waren, dass sie die meisten Häuser verbargen.
»Wenn du hier wohnen würdest, wärst du jetzt nicht so nostalgisch«, sagte Dave Donnelly und trat mit dem Fuß nach den Überresten eines erloschenen Lagerfeuers. Dave hatte sich früher nur selten im Darm herumgetrieben. Er war immer zu beschäftigt gewesen, Kapitän des Hurling-Teams zu sein, mit dem Ruderclub zu trainieren oder mit den Pfadfindern Wanderungen zu machen. Jetzt pflückte er sich eine Klette vom Hosenbein und wischte sich Mohnsamen vom Ärmel.
»Alle paar Wochen gibt’s hier eine Cider-Party, eine Messerstecherei, einen unkontrollierten Brand oder sonst irgendwelchen Scheiß«, sagte er.
»Ich kann gar nicht glauben, dass hier noch keiner gebaut hat«, sagte ich. »Auch wenn es nicht gerade ein ursprüngliches Fleckchen von bestechender Schönheit ist.«
»Es gibt da zwei alte Knaben, die sich nicht einigen können, wem es gehört. Die streiten schon seit über zwanzig Jahren. Und solange sie
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