Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
zurechtgelegten
Argumente brauchte sie nicht. Vom Pförtner erhielt sie die Auskunft, Dr. Frywaldt
wolle sie persönlich im Foyer abholen. Keine drei Minuten später eilte ein Mann
auf sie zu. Eine schlaksige Gestalt in abgetragenen Jeans und einem karierten, weit
über die Hüften hängenden Hemd. Auf der länglichen Nase trug er eine markante, dunkle
Brille. Als er näher herangekommen war, bemerkte sie, dass seine dunklen Haare zu
einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Nicht unbedingt die Erscheinung, die
in diesem Haus üblich war.
»Frau Tann,
wie schön!«, begrüßte er sie. »Ich gebe zu, Sie machen mich neugierig!«
»Tatsächlich?«
»Der Kollege
Milano schätzt Sie sehr.«
Sie stutzte.
»Das hat Luigi gesagt?«
Er lachte.
»Natürlich nicht! Er meinte nur, es gebe in Biebrich eine Privatdetektivin, die
gehörte früher zu uns, und wenn sie sich in einen Fall verbissen hat, lässt sie
nicht mehr locker.«
Das zweifelhafte
Kompliment ließ sie an den Staatsanwalt Kaan und dessen quirligen Namensvetter denken.
Sie überging es kommentarlos. »Können Sie mir bereits etwas zu den Knochen sagen,
Herr Dr. Frywaldt?«
Er bat um
einen kurzen Aufschub. »Die Mittagszeit ist fast vorbei. Begleiten Sie mich noch
zum Essen?«
Sie willigte
gern ein. Die Kekse hatten sie nicht satt gemacht. Frywaldt schlug ein flottes Tempo
an und ließ den Lift unbeachtet. Durch das verglaste Treppenhaus erreichten sie
eine tiefere Etage und legten im Gleichschritt den Weg zur Cafeteria zurück, die
verlassen war, abgesehen von einer jungen Frau in der Küche. Selbstverständlich
könnten sie noch etwas Warmes bekommen! Norma bestellte Pasta mit gegrilltem Gemüse,
und ihr Begleiter schloss sich der Wahl an. Sie setzte sich ans Fenster und beobachtete
Frywaldt, der ihr den Rücken zugewandt hatte und auf das Essen wartete. Ein ruhiger,
ausgeglichener Mann, dem ersten Eindruck nach, der mit hessischem Zungenschlag sprach.
Er mochte vier, fünf Jahre älter sein als sie selbst.
Frywaldt
trug die Teller an den Tisch. »Voilà, Madame!«
In welchen
Fächern er promoviert habe, fragte sie, als er Platz genommen hatte.
Ein Titel
pro Studium, erklärte er. Zuerst Medizin, danach Biologie.
»Puh!«,
machte Norma. »Fleißig!«
Er lachte
leise. »Wenn es nach dem Spaßfaktor gegangen wäre, hätte ich Physik drangehängt.
Leider muss man irgendwann ans Geldverdienen denken. Mögen Sie auch Parmesan?«
Ohne die
Antwort abzuwarten, sprang er auf und ließ sich den Käse geben.
Beim Kaffee
kamen sie auf den Grund ihres Besuchs zu sprechen.
»Wissen
Sie inzwischen, wer Ihnen die Knochen geschickt hat?«, fragte Frywaldt.
Norma schüttelte
den Kopf. »Was haben Sie herausgefunden?«
Frywaldt
rückte die Tasse beiseite. »Nicht viel bisher. Männlich, vermutlich nicht mehr ganz
jung. Wann er starb, ist schwer zu sagen, solange wir das Medium nicht kennen, in
dem das Skelett gelegen hat. Da kann ich im Augenblick nur raten. Vermutlich war
es zuerst feucht und trocknete während des Verwesungsprozesses aus. Es gibt Spuren
von Mäusefraß, aber nicht von größeren Tieren.«
»Also waren
die Knochen verschlossen. In einem Sarg?«
»Etwas in
der Art, nehme ich an. Die Spuren weisen darauf hin, dass die Knochen mit Eichenholz
in Berührung kamen.«
»Wie lange,
schätzen Sie, Herr Frywaldt, ist der Mann tot?«
»20, 30
Jahre womöglich. Ein Umstand ist besonders interessant.«
»Sie meinen
die Finger?«
»Diese Deformierungen!
Ich muss das genauer untersuchen. Ehrlich gesagt, Ihre Knochen sind zurzeit mein
Freizeitvergnügen. Solange wir nicht von einem Verbrechen ausgehen, haben die anderen
Fälle Priorität. Ich muss Ihnen nicht erklären, wie die Personalsituation bei uns
aussieht.«
»Damit habe
ich gerechnet«, sagte Norma und bedankte sich.
»Was haben
Sie als Nächstes vor?«, fragte er, als sie wieder im Foyer standen.
»Alle Wiesbadener
Vermisstenakten durchsehen.«
Er lächelte.
»Na, viel Vergnügen! Dabei müssen Sie die 30 Jahre ausschöpfen. So lange werden
die Fälle aufbewahrt. Ein Fischen im Trüben!«
»Einen Anhaltspunkt
gibt es: Die Veränderungen der Knochen. Hatte der Mann starke Schmerzen?«
»Im Handgelenk
und in den Fingern? Angenehm war es bestimmt nicht. Und die Beweglichkeit der Hand
war stark eingeschränkt. Was macht Sie so sicher, dass der Mann aus unserer Gegend
stammt?«
»Nicht das
Geringste«, gab Norma zu. »Bisher weiß ich noch nicht einmal, in welcher Postfiliale
das Päckchen
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