Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
aufgegeben wurde. Aber irgendwo muss ich anfangen.«
18
Am späten Nachmittag parkte sie
den Wagen erneut am Schiersteiner Hafen. Das Wetter hatte sich gefangen. Die tief
stehende Sonne tauchte das Hafenwasser in ein karibisches Blau, und vor einer Eisbude
wuchs eine lange Schlange. Norma genoss die frische Luft in vollen Zügen – nach
den Stunden im Polizeiarchiv inmitten unzähliger Aktenmappen, die von keiner Menschenhand
berührt schienen, seit das Polizeipräsidium Westhessen, das für die Stadt Wiesbaden
und das Umland zuständig war, im Jahr 2004 ins ehemalige Krankenhaus des US-Militärs
eingezogen war. Dass sie sich überhaupt an den Unterlagen bedienen durfte, verdankte
sie ihrem ehemaligen Chef Gert-Michael Schneider, der andererseits erleichtert schien,
vorerst keine eigenen Leute mit der Knochenpost beschäftigen zu müssen. Offensichtlich
baute er liebend gern auf den freiwilligen Einsatz der Exkollegin. Dass Norma als
Außenstehende Einsicht in die Akten nehmen durfte, hatte er sich von oberster Stelle
genehmigen lassen. Zielstrebig arbeitete sie sich durch einen Karton nach dem anderen
und überflog die vergilbten Blätter. Der mitleidige Archivar versorgte sie derweil
mit Kaffee. Falls ihr Knochenmann jenseits der 30-Jahresfrist zu Tode gekommen war,
wären seine Unterlagen vernichtet worden. Sofern der Mann überhaupt im hiesigen
Raum als vermisst gemeldet worden war. Gleichwohl: Das Erste, was Norma als Polizistin
gelernt hatte, war, im Umgang mit Akten Geduld und Ausdauer zu beweisen. Hartnäckig
kämpfte sie sich durch die Unterlagen, bis zum Schluss ein Stapel möglicher Kandidaten
übrig blieb: 15 Männer mittleren Alters, die innerhalb der vergangenen drei Jahrzehnte
in Wiesbaden oder im Umland verschollen waren. Mithilfe des freundlichen Archivars
hatte sie die Mappen in zwei Kartons verstaut und in den Kofferraum geladen.
Sie umrundete
die Eisliebhaber und stieg die Stufen des Restaurants ›Zum Hafen‹ hinauf. Bei den
milden Temperaturen war die Terrasse, die eine hübsche Aussicht auf das Wasser bot,
bestens besucht. Ein Gast nahe der Treppe, komplett in Schwarz gekleidet und die
Schiffermütze ins Gesicht gezogen, fing ihren suchenden Blick auf und deutete auf
einen freiwerdenden Tisch. Sofort eilte die Bedienung heran. Norma bestellte Mineralwasser
und ein Glas Riesling Kabinett ›Schiersteiner Hölle‹ sowie einen Salat mit Schafskäse.
Als die
Bedienung die Getränke brachte, legte Norma Angelas Foto auf den Tisch. »War die
Dame öfter bei Ihnen zu Gast?«
Die Frau
stellte die Gläser ab. »Die Frau Staatsanwältin? Sie war unser Stammgast. Dieser
entsetzliche Unfall …« Sie schien misstrauisch zu werden. »Warum fragen Sie? Sind
Sie von der Zeitung?«
Die aufrichtige
Erklärung, wer sie war und wer sie beauftragt hatte, ließ das Eis schmelzen.
»Elisa Bennefeld
schickt Sie? Ich kenne sie gut. Ja, Frau Dr. Bennefeld war am Mittwochabend hier.
Sie kam recht spät und wollte noch etwas essen.«
»War Sie
allein?«
»Ursprünglich
schon. Später habe ich einen Mann an ihrem Tisch gesehen. Der blieb aber nicht lange.
Glaube ich.« Sie lächelte verunsichert.
»Kannten
Sie ihn?«
Die Familie
am Nebentisch wollte zahlen. Die Bedienung nahm das Tablett auf. »Ich habe nicht
weiter auf ihn geachtet. Der Laden brummte. Am besten, Sie reden mit Heiko!«
»Ihr Kollege?«
»Ein Stammgast.
Er sitzt dort drüben!«
Der Mützenmann.
Graue Haare unter dem Mützenrand. Bartstoppeln um das kantige Kinn.
»Heiko,
und weiter?«
Sie lächelte.
»Keine Ahnung. Heiko genügt ihm.«
»War Heiko
am Mittwochabend hier?«
»Er ist
fast immer hier. Ich schicke ihn rüber!«
Sie wandte
sich ab und sprach den Stammgast an. Er nickte bedächtig, schaute bedächtig, leerte
in aller Ruhe sein Bierglas, zog beim Aufstehen die schwarze Cordhose hoch, die
kaum Halt am mageren Bauch fand, und schlenderte Normas Tisch entgegen.
Sie nannte
ihren Namen und deutete auf den Stuhl gegenüber. »Bitte! Darf ich Ihnen ein paar
Fragen stellen?«
Er setzte
sich und widmete seine Aufmerksamkeit dem Hafen. Wie alt mochte er sein? 50 Jahre?
70 Jahre? Das zerfurchte Gesicht ließ den Spekulationen freien Lauf.
»Moin!«,
sagte er unvermittelt.
»Moin!«
Sie tippte auf das Foto. Sein Blick streifte Angelas Porträt, bevor er sich wieder
von den Masten der Segelboote fesseln ließ.
Norma ahnte,
das könnte zäh werden. Ein neuer Versuch: »Sie haben Angela Bennefeld gekannt?«
»Hmm.«
»Was
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