Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
schläfriger Stimme erklärte er, in besagter Nacht sei nicht
viel los gewesen. Er habe den Dienst wie gewöhnlich zehn Minuten früher angetreten.
Wernhardt sei unmittelbar danach von draußen ins Foyer gekommen und habe bis kurz
vor Mitternacht mit ihm geplaudert. Anschließend sei der Schauspieler auf sein Zimmer
gegangen.
Norma beschloss,
ihren Mittagscappuccino in einem Straßencafé zu trinken, und wollte dazu eine Kleinigkeit
essen. Rings um den Kranzplatz gab es mehrere Gelegenheiten. Während sie auf ein
Panino Caprese wartete, tippte sie die Fakten aus dem Gespräch in ihr Notebook.
Beim Essen plante sie die nächsten Schritte. Wernhardt wollte sie aufgrund des Alibis
vorerst außer Acht lassen. Adam Dyzeks Telefonnummer in Südafrika hatte sie über
die Auslandsauskunft bekommen, unter dem Anschluss jedoch niemanden erreichen können.
Also war die Reihe an Ulf-Harald Halvard. Als der Teller geleert war, wählte sie
sich ins Internet ein und suchte die Telefonnummer von dessen Büro heraus. Herr
Halvard sei im Augenblick sehr beschäftigt und nicht zu sprechen, schon gar nicht
in einer privaten Angelegenheit, bekam Norma von einer unwirschen Dame zu hören.
Was seine Aufmerksamkeit so fordere, fragte sie unbefangen.
»Das Weinseminar
heute Abend im Kurhaus«, erklärte die Sekretärin ungeduldig. »Herr Halvard wird
den Abend moderieren. ›Vom Rheingau durch die Welt des Weins‹.«
»Gibt es
dafür noch Karten?«
Ein fassungsloses
Auflachen. »Sie haben Vorstellungen! Unsere Weinabend sind höchst gefragt. Selbstverständlich
ist die Veranstaltung ausgebucht.«
»Selbstverständlich«,
echote Norma. »Und da ist absolut nichts zu machen?«
»Bedauere!
Was glauben Sie, wer bei mir alles nachfragt.«
Norma bedankte
sich für die Auskunft und wählte die Nummer von Lutz.
»Hast du
heute Abend etwas vor?«
Wie immer
freute er sich über ihren Anruf. Geplant sei ein Abendessen mit Undine gewesen,
die aber habe absagen müssen. »Ein kurzfristiger Termin mit einem Kunden. Der Mann
ist in Geldnöten und will ein Gemälde verkaufen. Diskret natürlich.«
»Dann hast
du Zeit für mich. Was hältst du von einem Weinseminar im Kurhaus?«
»Kommt darauf
an, wer es leitet. Ich will mich nicht langweilen.«
Ungeachtet
der ihm sonst eigenen Bescheidenheit betrachtete Lutz sich als profunder Kenner
von Weinen, zumindest der deutschen. Als er erfuhr, dass der sogenannte Weinpapst
persönlich durch den Abend führen sollte, wurde er neugierig.
»Es gibt
nur ein kleines Problem«, sagte Norma. »Wir haben keine Karten.«
Er spielte
den Gekränkten. »Ich dachte, dir liegt etwas an meiner Gesellschaft. Stattdessen
willst du meine Verbindungen auskosten.«
»Das eine
schließt das andere nicht aus. Nennt man das nicht einen Synergieeffekt?«
»Auf wen
hast du es abgesehen?«
»Genau genommen
will ich an den Weinpapst persönlich ran.«
»Du hast
Nerven! Wie stellst du dir das vor?«
»Das wird
sich ergeben, wenn wir erst im Kurhaus sind.«
Er lachte.
»Mal sehen, was sich machen lässt. Ruf mich später wieder an.«
Ein junger
Mann brachte den Cappuccino. Mit Vorfreude steckte Norma den Löffel in den Milchschaum.
»Hallo,
Frau Exkollegin!«
Sie fuhr
herum und schaute auf in ein vertrautes Gesicht, das von einer dickglasigen Brille
beherrscht wurde. »Dirk! Was machst du hier?«
»Ich war
in der Buchhandlung. Auch ein Polizeibeamter hat ein Recht auf eine Mittagspause.«
War die
letzte Bemerkung ironisch gemeint? Bei Wolfert konnte man nie wissen.
»Setz dich
doch! Ein interessantes Buch?«
Er hatte
die Einkaufstüte auf einen leeren Stuhl gelegt. Widerstrebend zog er einen großformatigen
Band heraus. Das Pelztier auf dem Einband grinste mit nagelspitzen Zähnen und schmückte
sich mit beeindruckend knorpeligen Ohren.
»Oh«, staunte
Norma. »Ein Buch über Fledermäuse!«
Wolfert
setzte sich. »Es ist nicht mein einziges.«
»Das hoffe
ich doch! Jeder Mensch sollte mindestens zwei Bücher besitzen. Zusätzlich zum Telefonbuch.«
Er lachte
nicht, aber er lächelte. Immerhin. Das bedeutete etwas bei Wolfert, der für seine
Sprödigkeit und Pedanterie so berüchtigt war wie Luigi Milano für seine Ruppigkeit.
Während ihrer Zeit im Polizeidienst hatte sie Wolferts Verlässlichkeit zu schätzen
gelernt – und Milanos Neigung zu kreativen Lösungen. Die gegensätzlichen Charaktere
bildeten ein perfektes Team, und der Erfolg hatte dem Duo den Spitznamen ›Protokoll
und Genie‹ beschert.
»Du
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