Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
magst
also Fledermäuse«, sagte sie einlenkend.
»Warum denn
nicht? Jeder braucht Ablenkung vom Alltag. Du entspannst dich bei Yoga und Laufen.
Ich komme zur Ruhe, wenn ich nachts auf dem Neroberg sitze und nach den pfeilschnellen
Jägern Ausschau halte. So hat jeder seine Methode.«
»Und Luigi?«
Wieder lächelte
er und zeigte die ausgeprägten Schneidezähne, die Norma an jene Mäuseart denken
ließ, die in der Luft nichts verloren hatte. »Luigi liest neuerdings die italienischen
Philosophen. In der Originalsprache!«
Norma pfiff
anerkennend. »Ich dachte, er interessiere sich ausschließlich für seine Mafiathriller.«
Wolfert
winkte dem Kellner und bestellte ein Mineralwasser. »Ich habe gehört, du hast dir
die Vermisstenakten besorgt. Bist du weitergekommen?«
Norma seufzte.
»Bisher nicht. Das ist ein mühsames Geschäft. Die halbe Nacht und den Vormittag
habe ich damit zugebracht, die Adressen der Angehörigen herauszufinden. Meine Hauptarbeit
sollte sich eigentlich um Angela Bennefeld drehen, wie du weißt. Zu Weihnachten
1986 sprang Karl Bennefeld vom Kirchturm, richtig?«
Er nickte.
»Ich war in den Fall involviert, wie ich dir erzählt habe.«
»Im Jahr
davor, im Oktober 1985, nahm sich Bennefelds Nachbar das Leben. Ewald Medzig. Weißt
du etwas darüber?«
In den Akten
war kein Hinweis auf Medzig zu finden gewesen. Der Fall galt als abgeschlossen.
Medzig wurde, trotz fehlender Leiche, amtlich für tot erklärt.
Wolfert
rieb sich nachdenklich das Kinn. »Der Vermisste an der Hallgarter Zange? Nun, es
gab natürlich Gerede nach Bennefelds missratenem Freitod. Beide Vorfälle haben die
Schiersteiner sehr aufgewühlt, wie man sich denken kann. Vermutest du einen Zusammenhang
zu Angelas Tod?«
»Keine Ahnung«,
sagte Norma. »Im Moment kann ich nur zitieren: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Von
welchem Philosoph stammt der Satz?«
Die Augen
hinter der Brille blinzelten vergnügt. »Frag doch Luigi!«
20
Wieder im Büro galt der erste Anruf
Lutz. Er hatte die Karten für das Weinseminar, auf welchem Weg auch immer, bekommen.
Norma solle ihn eine halbe Stunde vor Beginn in der Villa Tann abholen, bat er.
Bis dahin konnte sie sich mit den vermissten Männern befassen. Es widerstrebte ihr
sehr, bei den Angehörigen anzurufen und alte Wunden aufzureißen. Nach tiefem Durchatmen
wählte sie die erste Nummer ihrer Liste, ein Anschluss im Stadtteil Dotzheim. Dort
war 1990 ein dreifacher Familienvater von der Arbeit nicht nach Hause gekommen.
»Schering.«
Eine Frauenstimme. Rauchig. Mürrisch.
Norma räusperte
sich. »Antonia Schering?«
Die Antwort
war ein argwöhnisches und fragendes »Jaaa?«.
Verschiedene
Taktiken waren ihr zuvor durch den Kopf gegangen, bis sie schließlich beschlossen
hatte, bei der Wahrheit zu bleiben. Jedenfalls halbwegs. Keinesfalls wollte sie
die Skelettteile erwähnen. Höflich nannte sie ihren Namen und Beruf und erklärte,
Hinweisen auf eine vermisste Person nachzugehen. »Dürfte ich Ihnen einige Fragen
zu Ihrem Ehemann Walter Schering stellen?«
»Das war
mein Vater.«
»Oh, entschuldigen
Sie bitte. Ich dachte, Antonia …«
»Wir haben
denselben Vornamen, meine Mutter und ich. Auch so eine Schnapsidee von dem Kerl,
der sich Vater schimpfte. Und der meine Mutter mit drei Kindern sitzenließ.«
Norma räusperte
sich. »Könnte ich Ihre Mutter sprechen?«
»Was weiß
ich, ob Sie das können. Dafür müssen Sie auf den Dotzheimer Friedhof.«
»Sie meinen
…?«
»Der Kerl
hat meine Mutter ins Grab gebracht. Er ist einfach abgehauen, und sie ist fast irre
geworden vor Sorge. Die Hölle hat sie durchgemacht wegen dem.«
Mit dem
ersten Anruf gleich mitten hinein ins Wespennest.
Aufgelegt.
Norma holte tief Luft und wählte noch einmal. Nichts.
Beim dritten
Versuch nahm die Frau ab. »Sind Sie das wieder?«
Norma bat
um Verzeihung. »Ich wollte Sie nicht aufregen. Bitte, nur eine Auskunft.«
Ob der Vater
Schmerzen in der rechten Hand gehabt habe? Einen verkrüppelten rechten Daumen?
Das Lachen
klang hysterisch. »Soll das ein Witz sein? Der Schering und Probleme mit den Fingern?
Er hat rumgezockt wie sonst keiner. Alle Kartentricks hatte er auf Lager. Wie hätte
er mit kaputten Fingern unser ganzes Geld verspielen sollen? Das sagen Sie mir mal!
Wie hätte das gehen sollen?«
Die verlassene
Tochter redete sich in Rage. Als Norma sich endlich aus dem Gespräch herausgewunden
hatte, brauchte sie einen starken Kaffee; ihrem empfindlichen Magen zuliebe
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