Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
Nina klang aufgeregt und überschwänglich wie selten. Jedes zweite
Wort ihrer übersprudelnden Sätze lautete ›Jean-Claude‹. Nach dem Telefonat schickte
sie ein Foto: Wange an Wange mit einem jungen Mann. Norma hätte nicht sagen können,
wessen Lächeln strahlender war. Eine verliebte Nina hatte sie noch nie erlebt. Hoffentlich
taugte der Junge etwas.
»Autsch!«,
schimpfte sie. »So nicht, mein Lieber.«
Leopold
war ins Rutschen gekommen und hatte an ihrem Oberschenkel Halt gesucht. Sie schubste
ihn herunter, woraufhin er sich auf den Besucherstuhl flüchtete. Ihr Blick war dem
Kater gefolgt und fiel auf eine rundliche Gestalt am Fenster.
Norma stand
auf und öffnete die Tür. »Chrissi! Warum kommst du nicht herein?«
Sie habe
beim Telefonieren nicht stören wollen. Das Mädchen hatte sich in etwas Rosafarbenes
gehüllt. Die dunklen Rehaugen büßten unter dem balkenartigen Lidstrich jeglichen
Zauber ein. Am liebsten hätte Norma die Aufmachung kommentiert, wäre sie sich dabei
nicht altbacken und spießig vorgekommen.
»Wo ist
Lennox?«
Chrissi
folgte ihr nach drinnen.
»Lennox
ist bei Benni. Der kümmert sich gut. Wir sind jetzt eine Familie, Norma«, sagte
sie stolz.
»Schön.
Hoffentlich hält er durch!«
Chrissi
lächelte breit und entblößte eine Zahnspange. »Der packt das. Wir packen das! Ganz
sicher.«
»Das hoffe
ich für dich und den Kleinen.«
Leopold
verließ seinen Platz. Chrissi blieb stocksteif stehen, als er sich an ihre Waden
schmiegte.
»Nimm sie
weg! Bitte! Ich habe Angst vor Katzen. Kannst du dir das vorstellen?« Sie kicherte
aufgeregt.
Norma bückte
sich und hob den Kater hoch. »Niemand kann sich seine Ängste aussuchen.«
»Danke!«
»Wofür?«
Chrissis
Blick hing an dem Kater, der Norma wie Blei in den Armen lag. »Weil du nicht sagst:
Die tut nichts! Streichle die mal! Sieh, wie weich ihr Fell ist. Wie ich diese Sprüche
verabscheue.«
Norma schob
den Kater zur Schulter hinauf. Wohliges Grollen drang in ihr Ohr. »Warum bist du
gekommen? Brauchst du Geld?«
»Nein, nein.
Es ist wegen Benni.«
»Raus mit
der Sprache, Chrissi! Poldi ist ein echtes Schwergewicht.«
Chrissi
holte tief Luft. »Das Messer! Kann Benni das Messer zurückhaben?«
»Auf keinen
Fall. Das ist eine Waffe, Chrissi. Und er hat mich damit bedroht. Das Messer bleibt
hier in meinem Tresor, richte ihm das aus. Und, Chrissi …«
Sie drehte
sich an der Tür um. »Ja?«
Norma setzte
den Kater ab und lächelte ihr zu. »Ich wünsche dir und Lennox viel Glück mit Benni.«
25
Freitag, der 22. Juli
Der Sommer ließ sich wieder blicken.
Am frühen Nachmittag brannte die Sonne vom Himmel, und durch die schwirrende Luft
zog der Duft von Heu und Lindenblüten. Ein viel zu schöner Tag für Gedanken an den
Tod. Die Fahrt hatte Norma an der schlossartigen Söhnlein-Sektkellerei vorbeigeführt.
Der Schiersteiner Friedhof lag ein Stück dahinter rechts der Straße. Norma stellte
den Wagen vor der Friedhofsmauer ab. Der Eingang befand sich gegenüber einer Gärtnerei,
und der Weg führte direkt auf die Kapelle zu, in der sich die Trauergemeinde versammelt
hatte. Wer drinnen keinen Platz gefunden hatte, drängte sich in den Schatten des
von Säulen getragenen Vordachs. Betretende Gesichter ringsum, ob aus ehrlicher Betroffenheit
oder um den Konventionen Genüge zu tun – wer wollte das sagen? Die Männer in schwarzen
Anzügen tupften sich verstohlenen den Schweiß von der Stirn. Die Damen fächelten
sich Luft zu. Durch die offene Eingangstür klang die Stimme des Pfarrers. Unter
einem Schaukasten an der Wand war ein Stehpult mit der Kondolenzliste aufgestellt.
Norma überflog die Namen. Henriette Medzig war darunter, ihr Sohn Oliver, ebenso
Harry Halvard. Am Ende der Liste hatte sich Veit Lucas Wernhardt eingetragen.
Norma trug
eine Hose und Bluse aus leichtem schwarzem Leinen. Dass sie die dazugehörige Jacke
locker über dem Arm hielt, diente weniger der Vervollkommnung der Garderobe als
der Gelegenheit, unauffällig die kleine Digitalkamera in Aktion zu bringen. Sie
hatte es vor allem auf die Männer zwischen 40 und 60 abgesehen. Der Pfarrer sprach
ein abschließendes Gebet, und danach übertrugen die Lautsprecher ein klassisches
Klavierstück. Die Trauergäste verließen die Kapelle, angeführt von den Sargträgern,
denen Elisa Bennefeld folgte. An ihrer Seite schob ein Helfer den Rollstuhl eines
alten Mannes, der in seinem schwarzen Anzug zu versinken schien. In geringem Abstand
folgten die
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