Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
die nasale Stimme des schlaksigen Praktikanten Felix, der im Technikraum
alles für sie vorbereitet hatte. »Kommen Sie voran?«
»Wie man’s
nimmt«, antwortete Norma, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Seit zwei Stunden
verfolgte sie das Tagwerk in der Postfiliale der Kirchgasse. Jeden Kunden, der ein
Päckchen bei sich hatte, ließ sie in Zeitlupe reinmarschieren und vor dem Schalter
erstarren, um ihn eingehend zu betrachten. Zum Schluss waren zehn Leute übrig geblieben,
die ein Päckchen in Art und Größe der Knochenpost aufgegeben hatten: Vier Frauen,
fünf Männer und ein Junge zwischen zwölf und fünfzehn Jahren. Von jeder Person hatte
sie ein Bild ausgedruckt und auf den Tisch gelegt.
Felix musterte
die Aufnahmen neugierig. »Kennen Sie jemanden davon, Frau Tann?«
Norma stand
auf und streckte sich. »Leider nein! Niemand kommt mir bekannt vor. Ich hatte gehofft,
es wäre vielleicht ein früherer Klient.«
»Was haben
Sie als Nächstes vor?«
Norma lächelte.
»Gegenfrage. Was würde ein gescheiter Polizeischüler wie Sie tun?«
Felix errötete
und beugte sich tiefer über die Zettel. »Die Gesichter sind unscharf. Da könnte
man was machen. Computertechnisch, meine ich.«
»Das würden
Sie hinkriegen, Felix?«, fragte sie erwartungsvoll.
Er richtete
sich auf. »Ganz bestimmt! Mit Bildbearbeitungsprogrammen kann ich umgehen.«
»Und anschließend?«
Er schaute
sie an, als wäre sie nicht von dieser Welt. »Natürlich der Abgleich mit den Personendateien!«
»Na, dann
machen Sie mal, Felix.«
»Ich soll
…?«
Sie lächelte.
»Wer sonst? Das ist Polizeiarbeit, und ich bin eine Privatperson. Sie wollen schließlich
die Polizeipraxis kennenlernen oder nicht?«
»Ganz gewiss!
Aber …«
»Ich rede
mit Ihren Chefs«, versprach sie.
Wolfert
und Milano teilten sich ein Büro. Es konnte keinen Zweifel geben, wem welcher Schreibtisch
gehörte. Dirks Arbeitsbereich war frei bis auf Tastatur, Maus, Kaffeebecher und
wenige säuberlich aufeinandergeschichtete Akten, während die Papiertürme auf Luigis
Platz von offenen Kekspackungen und angebissenen Schokoriegeln umlagert wurden.
Ein Anblick, der Wolfert zu schaffen machen musste. Über die Aufgabe, die sie Felix
aufgedrückt hatte, hätte sie lieber mit Milano gesprochen. Zu ihrer Erleichterung
war Wolfert einverstanden, fast schien er froh zu sein, den wissbegierigen Praktikanten
eine Weile aus dem Weg zu haben.
Er entblößte
freundlich die Nagetierzähne. »Heute komplett in Schwarz? Steht dir gut!«
Ein Kompliment?
Ungewohnte Töne des Hauptkommissars. Seine Laune war bestens; womöglich, weil er
einen Tag lang nicht Luigis Keksgekraspel und Gemampfe ertragen musste.
Sie käme
geradewegs von der Trauerfeier, erklärte Norma. »Es ist seltsam. Alles, was ich
über Angela zu hören bekomme, führt weit in die Vergangenheit zurück. Man schildert
mir Ereignisse, die über 20 Jahre zurückliegen. Als ob die Gegenwart wenig Bedeutung
für Angela gehabt hätte. Wie von Zauberhand ist außerdem der Verlobte von damals
aufgetaucht.«
Wolferts
blaue Augen zwinkerten hinter den Brillengläsern. »Warum suchst du nicht in der
Vergangenheit nach einem Anfang, der dich in die Gegenwart leitet? Finde den Faden
der Ariadne!«
Sie lächelte.
»Der mich aus dem Labyrinth herausführt. So poetisch heute, Dirk? Übrigens, einen
Ariadnefaden könnte man im Weinkeller der Medzig gebrauchen.«
»Will dein
Schwiegervater das Weingut nun kaufen?«
Sie rollte
sich Luigis Bürostuhl heran, auf dem zwei Normas Platz gefunden hätten. »Frag mich
was Leichteres. So unentschlossen kenne ich Lutz gar nicht.«
Wolfert
lachte leise. »Sorgen, die mir erspart bleiben. Ich bin mit meiner bescheidenen
Wohnung zufrieden.«
Wie sie
wusste, wohnte er in einer Mietwohnung nahe des Kurecks. Sie stellte sich ein sehr,
sehr aufgeräumtes Singleappartement vor. Mutmaßlich mit einem Porträt des Großen
Mausohrs über der Couch.
Sie spann
den Faden weiter. »Auch Henriette Medzig muss eine Entscheidung treffen. Sie steht
unter Druck. Ihr Sohn will an einen Investor verkaufen, der Lutz höchstwahrscheinlich
überbieten würde. Etwas anderes, Dirk: Ich hatte ein Gespräch mit Kay Kaan.«
Er strich
sich nachdenklich über das Kinn. »Kay Kaan, das war der schärfste Hund unter den
Wiesbadener Staatsanwälten. Ich hatte öfter mit ihm zu tun. Er muss jetzt Anfang
60 sein, hat sich frühzeitig pensionieren lasen und geht seinem Hobby nach.«
»Briefmarken
sammeln? Rosen
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