Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
kein
schlechter Mann. Dass er oft zornig wurde, lag an den Kopfschmerzen, die ihn ungeduldig
und nervös machten. Davor hatten wir auch gute Zeiten. Da waren wir vertraut miteinander.
Nur zwischen ihm und unserem Sohn hat es nie harmonieren wollen.«
Etwas an
Henriettes Tonfall ließ Norma aufhorchen. »Ihr Mann war gewalttätig?«
Die Winzerwitwe
widersprach energisch. »Nein, so darf man das nicht nennen. Ihm ist ab und zu die
Hand ausgerutscht. Hinterher hat es ihm immer leid getan. Hennlein, sagte er dann.
Hennlein, ich wollte das nicht. So nannte er mich immer, wenn es ihm ans Gefühl
ging. Nur Harry hat er niemals geschlagen. Noch nicht einmal, als Harry noch Lehrling
war. Harry hatte keine Angst vor ihm. Das hat Ewald imponiert.«
»An welcher
Krankheit litt ihr Mann?«
Henriette
hielt die Beine still und setzte dazu an, nur mit den Zehen zu wippen. »Etwas Seltenes.
So selten, dass es nur einen lateinischen Namen dafür gibt. Den konnte ich mir nie
merken. Die Schmerzen machten ihm oft zu schaffen.«
»Hat er
sich deswegen das Leben genommen?«
Henriette
starrte auf die wackelnden Zehen. »Da kam so viel zusammen. Seine Krankheit, die
schlechten Preise für den Wein und die Vorwürfe, gepanschten Wein verkauft zu haben.
Wer weiß, was in dem Mann vorging.«
»Ihr Mann,
Frau Medzig, wurde Jahre nach seinem Verschwinden für tot erklärt. Weil man seinen
Körper nicht gefunden hat. Die Ungewissheit muss für Sie sehr quälend gewesen sein.«
Die Füße
hielten still. Henriette schüttelte den Kopf. »Nein, nein, es gab keine Ungewissheit.
Ich hatte ja den Abschiedsbrief. Der Nachbar hat gesehen, wie Ewald mit dem Wagen
losgefahren ist. Den Wagen hat man später verlassen im Wald gefunden. Oben an der
Hallgarter Zange, wo Ewald immer so gern war. Dort gibt es Dickichte, hat mir der
Förster gesagt, wenn sich darin einer umbringt, den finden allein die Füchse und
Wildschweine.«
»Und wie
mag er gestorben sein?«
»Er hat
sich erschossen. Davon ging auch die Polizei aus. Mit der Pistole, die sein Vater
zum Kriegsende im Weinberg vergraben hatte. Als der Krieg vorbei war, hat er die
Pistole hervorgeholt und seinem Sohn geschenkt. Ewald hat die Pistole gern vorgeführt,
um bei Gästen Eindruck zu machen. Es gab sogar noch Patronen dafür. Er hatte die
Pistole im Nachttisch liegen. Falls Einbrecher kommen. Gott sei Dank hat sich nie
einer blicken lassen.«
»Eine illegale
Waffe also.«
Henriette
schaute auf. »Ewald war kein Jäger oder Hobbyschütze. Er besaß keinen Waffenschein,
wenn Sie das meinen. Die Waffe war dann ja weg. Genauso wie Ewald. Aber warten Sie!«
Sie bat
Norma, die untere Tür des Küchenschranks zu öffnen, hinter der sich Aktenordner,
Fotoalben, Kochbücher und zerrupfte Illustrierte stapelten.
»Da muss
irgendwo ein grüner Umschlag sein.«
Norma kniete
sich auf die Fliesen und fand schließlich eine von Einweckgummis zusammengehaltene
Mappe zwischen losen Blättern mit Kochrezepten.
Vom Kanapee
aus hatte Henriette die Suche ungeduldig verfolgt. »Sehen Sie hinein!«
Norma trug
die Mappe zum Tisch. Zum Vorschein kamen die persönlichen Unterlagen des Ewald Medzig:
Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, ein Streifen mit Passfotos, die einen ernsthaften
Mann zeigten, der Oliver ähnlich sah. Das Formular, das sein Ableben amtlich bestätigte.
Der Abschiedsbrief. Norma überflog die Zeilen, die an die Ehefrau gerichtet waren
und kühl und nüchtern klangen. ›Henriette, ich kann nicht mehr.‹ Kein liebes Wort
zum Ende. Keine Bitte um Verständnis. Kein Wort an den Sohn. Allein die knappe Erklärung,
dass er nicht länger leben wolle. Hintereinander gereihte Xe verdeckten mehrere
Tippfehler.
Norma wunderte
sich. »Er hat für die wenigen Zeilen extra eine Schreibmaschine genommen?«
Henriette
fand nichts dabei. »Warum nicht? Ewald nahm für alles die Schreibmaschine. Er ist
Winzer, kein Schönschreiber, hat er immer gesagt.«
Norma betrachtete
den hingekritzelten Namenszug und legte den Brief beiseite. Neugierig blätterte
sie weiter: Prüfungszeugnisse, der Meisterbrief. Und darunter: das Foto einer Pistole.
Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Das Fotopapier war mit einem geriffelten weißen Rahmen
versehen wie die Fotos, die Norma aus dem eigenen Familienalbum der 1960er-Jahre
in Erinnerung hatte.
»Ewald hat
das Bild aufgenommen. Wenn er einen großzügigen Tag hatte, durfte ich mir den Fotoapparat
ausleihen. Dann bin ich nach Wiesbaden gefahren und habe Fotos von der Stadt
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