Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
Rheinhessen blicken. »Sie spielen auf den Spätlesereiter an?
Der Bote, der nicht rechtzeitig zurückkehrte? Wenn ich mich richtig erinnere, hatten
die Johannisberger Mönche ihn nach Fulda geschickt. Er sollte die Erlaubnis des
Bischofs einholen, damit die Mönche mit der Lese beginnen konnten.«
Dyzek ergänzte
die Legende. »Die Kellermeister warteten und warteten, und an den Rebstöcken faulten
die Trauben. Edelfäule nennt man das heute. Für die Kellermeister zu jener Zeit
schien die Ernte verloren. Als der Reiter mit wochenlanger Verspätung endlich auftauchte,
kelterten sie trotzdem. Dank der Sturheit der Kellermeister wurde im Herbst 1775
in Johannisberg die edelsüße Spätlese erfunden.«
»Erklären
Sie einem Nordlicht wie mir, was die Besonderheiten einer Spätlese sind?«, bat Norma.
Der Winzer
lächelte wohlwollend. Hier draußen im Weinberg schien er wenig gemeinsam zu haben
mit dem wortkargen Mann auf Angelas Trauerfeier. »Nun, wie der Name vermuten lässt,
werden die Trauben später im Jahr gelesen, und sie müssen einen bestimmten Oechslegrad
aufweisen. Der Oechslegrad bestimmt den Zuckergehalt. Allerdings muss eine Spätlese
nicht süß sein, man kann sie auch trocken ausbauen. Der Zucker ist dann komplett
vergoren. Die Spätlese muss also nicht grundsätzlich eine hohe Restsüße haben.«
»Die Restsüße
hat also mit der Gärung zu tun?«
Dyzek schob
das Rebmesser in die Hosentasche. »Wenn der Wein einen Alkoholspiegel von zwölf
Prozent erreicht hat, hört die Gärung auf. Was an Zucker übrig ist, nennt man Restsüße.
Man braucht allerdings ein Händchen für eine hochwertige Spätlese.«
»Und wem
das Händchen fehlt: Wie könnte derjenige den Wein aufpeppen?«
»Mit der
Zugabe von Schwefel zum Beispiel, der den Gärungsprozess stoppt. Das Gleiche geschieht,
wenn man die Hefe herausfiltert. Dann bleibt Restsüße übrig, jedoch in einem Wein
ohne Geschmack und mit niedrigem Alkoholgehalt.«
»Man könnte
auch Zucker dazu tun«, schlug Norma vor.
»Was das
deutsche Weingesetz für Qualitätsweine verbietet«, konterte Dyzek.
»Bis Mitte
der 1980er-Jahre hat man dem Wunsch nach Süßem kräftig nachgeholfen. Und das nicht
ausschließlich mit harmlosem Zucker.«
»Sie spielen
auf den Glykolskandal an? Das waren katastrophale Auswüchse.«
»Ulf-Harald
Halvard gehörte zu den verdächtigen Panschern. 1993 hat Angela Bennefeld gegen ihn
ermittelt.«
Dyzek warf
einen kontrollierenden Blick zu seinen Leuten, die sich um eine Reihe hinaufgearbeitet
hatten. Das pausenlose Plappern des Lehrlings wehte heran. »Die Ermittlungen waren
der Anfang vom Ende unserer Liebe. Angela hatte sich völlig auf ihr Kesseltreiben
gegen Harry fixiert. Sie war vollkommen verbohrt.«
»Vielleicht
hatte Angela einen guten Grund, auf Sie sauer zu sein.«
»Was meinen
Sie?«, fragte er misstrauisch.
»Sie haben
Onno Halvard für einen Spottpreis das Weingut Bennefeld abgekauft. Und es zwei Jahre
später an Oberstaatsanwalt Jördens veräußert.«
»Ich konnte
verkaufen, an wen ich wollte.«
»Nicht,
wenn es eine abgekartete Sache war und deswegen die Ermittlungen gegen Harry niedergeschlagen
wurden.«
Seine Faust
fuhr in die Tasche mit dem Messer. »Was wollen Sie eigentlich? Glauben Sie, Angelas
Tod hat mit diesen alten Geschichten zu tun?«
»Ich hoffte,
Sie könnten mir das erklären!«
Er starrte
sie zornig an. »Mit diesen Unterstellungen gehen Sie entschieden zu weit. Verlassen
Sie meinen Weinberg. Und zwar pronto!«
Sie trat
den Rückzug an. Irgendwie konnte sie seinen Zorn nachvollziehen. Das war nicht besonders
höflich gewesen. Aber allein mit guten Umgangsformen käme keine Detektivin voran.
36
Von Johannisberg fuhr sie auf dem
kürzesten Weg zum Polizeipräsidium. Wolfert hatte eine SMS geschickt. Die Aufzeichnungen
aus der Erbenheimer Postfiliale, in der das zweite Päckchen abgegeben worden war,
seien eingetroffen, und der Praktikant habe alles für sie vorbereitet. Wolfert nahm
Norma in Empfang. Er wollte mit Milano in die Mittagspause und lud sie zum Mitkommen
ein. Die Bänder zum zweiten Päckchen könne sie sich anschließend ansehen, meinten
beide in bemerkenswerter Einigkeit. Als gehörte Norma weiterhin dem Team an, zogen
sie zu dritt über die langen Flure, und das unvermeidliche »Mahlzeit« begleitete
sie in die Cafeteria. Norma begrüßte frühere Kollegen und folgte den Kommissaren
an einen Tisch.
Der Knochenmann
wurde das Gesprächsthema. Um zu beweisen, dass es
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