Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)

mit
heiler Haut davonzukommen. Nach dem Heimflug verließ sie ihn. Wenige Wochen später
starb Arthur bei einem Verkehrsunfall. Zu dieser Zeit gehörte sie nicht mehr der
Kriminalpolizei an. Kein Präsidium konnte eine Polizeibeamtin gebrauchen, die ohne
sichtbaren Anlass das große Zittern bekam. Die es mit mehr als zwei Personen in
keinem Raum aushielt. Sie verabschiedete sich, bevor man es ihr nahelegte.
    »Was ist
los mit dir?«, fragte er besorgt.
    »Geht schon
wieder. Das Päckchen?«
    »Kann warten.
Was hast du? Bist du krank?«
    »Im Kopf.«
    »Norma,
ich meine es ernst.«
    »Ich auch.
PTBS.«
    »Eine posttraumatische
Belastungsstörung?«
    Sie nickte
und kämpfte gegen die Tränen an. Am liebsten hätte sie losgeheult wie ein Kind.
Sie kniff die Augen zu und lauschte seiner Stimme. Das Hämmern wurde schwächer.
    »Wenn das
so ist, bist du nicht krank, Norma. Jedenfalls nicht im Kopf.«
    Sie blinzelte
gegen die Mittagssonne. »Wie willst du das sonst nennen? Mir schießen Bilder wie
Blitze durchs Hirn. Gespenstische Szene, für die ich keine Worte habe. Ich kriege
von einer Sekunde zur anderen das Heulen und Zähneklappern. Ich kippe um, wenn ein
Päckchen kommt. Findest du das normal?«
    »Wenn Skelettteile
drin sind? Durchaus!«
    Sie fuhr
hoch. »Timon! Das ist kein Spaß.«
    Er drückte
sie behutsam zurück. »Norma! Ich bin kein Psychiater, aber eines weiß ich: PTBS
ist keine psychische Krankheit. Jeder gesunde Mensch kann diese Störung bekommen.
In Grunde ist es gar keine Störung. Sondern die Reaktion des Körpers auf eine existenzielle
Bedrohung. Mit einfachen Worten gesagt: In einer extremen Situation kann der Körper
so viele Stresshormone aussenden, bis das Gehirn mit dem Sortieren nicht hinterherkommt
und die Bilder in der falschen Datei ablegt. Dort rutschen sie heraus, wenn man
am wenigsten damit rechnet und sie nicht gebrauchen kann. Das Gehirn vermischt Realität
und Erinnerungen.«
    Der Spitzhackenschleuderer
verlor an Elan. Sie tupfte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Das
heißt, ich müsste Ordnung in meinen Erinnerungsablagen schaffen?«
    »Das Schlimme,
was du erlebt hast, braucht eine zeitliche Zuordnung. Ich weiß nicht, welcher tödlichen
Gefahr du ausgesetzt warst, Norma. Wir können darüber reden, wenn du willst. Jetzt,
irgendwann oder gar nicht, wenn du nicht möchtest.«
    »Danke.
Und danke auch für das nicht Gesagte.«
    »Das wäre?«
    »Dass du
mir keine Therapie aufschwatzen willst.«
    Er lächelte
fürsorglich. »Ich würde sie dir bestimmt nicht ausreden.«
    »Ich will
das Großreinemachen in meinem Kopf aus eigener Kraft schaffen. Hilf mir hoch, Herr
Doktor!«
    Er fasste
ihre Hand und zog sie nach oben. »Kann es ein, dass Norma Tann eine ausgesprochen
eigensinnige Person ist?«
    Sie zupfte
einen Fussel von der Hose. »Dem würde Norma nicht widersprechen. Überlege dir gut,
ob du mehr mit ihr zu tun haben willst.«
    »Meine Präparate
haben mich Geduld gelehrt«, sagte er gleichmütig. »Was hast du vor?«
    »Endlich
nachschauen, was der Postmann Schönes gebracht hat.«
    Sie ging
zum Schreibtisch und holte die Tüte mit den Latexhandschuhen heraus.
    Timon folgte
ihr. »Lass mich das machen!«
    Ohne Widerspruch
setzte sie sich auf den Bürostuhl und rollte angespannt vor und zurück, während
er mit den behandschuhten Händen nach der Schere griff und das Klebeband um den
Karton auftrennte. Vorsichtig öffnete er den Pappdeckel und stocherte mit einem
Lineal im Inhalt herum.
    »Bingo!
Rippen, Brustbein, Schulterblätter und Teile der Wirbelsäule. Ich muss mir das im
Labor genauer ansehen. Hoffentlich finde ich endlich einen Hinweis auf die Todesursache.«
    Sie betrachtete
die Gerippeteile, die das Päckchen bis zum Rand ausfüllten. Was mochte in einem
Menschen vorgehen, der eine solche Fracht auf die Reise schickte?
    Timon hockte
sich auf die Schreibtischplatte. »Ich frage mich, warum der Absender nicht alles
auf einmal in einem Paket geschickt hat.«
    »Eben, weil
dies kein Paket ist, sondern ein Päckchen. Ich habe mich bei der Post erkundigt.
Ein Paket erhält eine eindeutige Identifikationsnummer, mit der man die Sendung
zurückverfolgen kann. In der Postagentur achtet man natürlich auch auf vollständige
Angaben zum Absender. Diesen zu erfinden und dazu die Registrierung war unserem
Freund wohl zu heikel. Lieber hat er seine Sendungen aufgeteilt und die langen Knochen
zersägt. Ein Päckchen ist nicht versichert, und deswegen wird es nicht