Edgar und die Schattenkatzen (German Edition)
sagte Leyla in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. »Ich bin mir auch nicht sicher, ob du dir gemerkt hast, wie Mister Silver aussieht. Einer von uns sollte dich begleiten, entweder ich oder Edgar.«
»Ihr habt euch doch schon gestern auf die Lauer gelegt.« Algernons Blick schweifte zu Sue. »Eigentlich müsste ich Sue mitnehmen. Sie kennt Mister Silver doch auch.«
»ICH begleite dich«, sagte Leyla entschlossen, und bevor Edgar protestieren konnte, sprang sie zum Kellerloch hoch. Algernon seufzte und folgte ihr.
»Sie trauen uns nicht«, meldete sich eine klägliche Stimme aus der Ecke. Es klang ein bisschen beleidigt.
»Ach was, Sue.« Edgar stolzierte durch den Raum, bis er vor der getigerten Katze stehen blieb. »Leyla meint bestimmt nur, dass du dich noch ein wenig erholen sollst. Schließlich hat dir Professor Murphy eine Menge Spritzen verpasst.«
»Sie denkt, wir sind verrückt und können deswegen keine Wache halten«, beharrte Sue. »Aber das stimmt nicht. Wir sind sehr gut im Aufpassen. Sehr, sehr gut! Und was wir einmal gesehen haben, bleibt für immer in unserem Kopf.«
Edgar hatte so seine Zweifel, aber er ließ sich nichts anmerken, weil er Sue nicht kränken wollte. »Die nächste Wache hältst du mit mir«, schlug er vor. »Dann kann sich Leyla ausruhen. Wir beide schaffen das schon, oder? Wär doch gelacht!«
»Zum Lachen finden wir das nicht«, erwiderte Sue ernsthaft. »Mister Silver ist niemand, über den man sich lustig machen sollte. Er ist gefährlich. Keine Katze, die er mitgenommen hat, ist je wiedergekommen. Wir sind sicher, dass sie nicht mehr leben.« Ihre Stimme schwankte, sie schien großes Mitgefühl mit den verschwundenen Katzen zu haben. »Einmal hätte uns Mister Silver beinahe mitgenommen. Eleanor hatte uns schon aus dem Käfig geholt. Dann schaute uns Mister Silver tief in die Augen und sagte: ›Lass! Das lohnt sich nicht mehr. Sie hat ihre Leben schon verbraucht.‹ Und Eleanor steckte uns wieder in den Käfig.«
Warum interessierte sich Mister Silver dafür, wie viele Leben eine Katze noch hatte? Normalerweise sprachen die Menschen dieses Thema nie an … Leyla behauptete sogar, dass die meisten Menschen die Sache mit den neun Katzenleben nicht wussten. Edgar grübelte.
»Sue … Darf ich dich fragen, wie viele Leben du noch hast? Weißt du das?«
»Natürlich wissen wir das«, sagte Sue. »Wir haben nur noch eines. Das letzte.«
Edgar war bestürzt. Damit hatte er nicht gerechnet. So alt war Sue doch noch gar nicht …
»Professor Murphy hat uns viele Leben genommen«, fuhr Sue fort, und ihre Augen hatten jetzt wieder einen entrückten Ausdruck. »Der Mann mit der Kutte kam oft in den Keller. ›Sue‹, sagte er zu uns, ›es ist wieder so weit.‹ Sechs Mal war er da. Zuletzt kurz vor unserer Flucht. Zwei Leben hatten wir schon verloren, bevor wir zu Professor Murphy kamen.«
Edgar starrte Sue ungläubig an. »Vor unserer Flucht? … Heißt das, die Spritze davor … sie hat dich … umgebracht?«
Sue antwortete nicht, sondern lächelte nur.
Durch Edgars Körper lief ein Zittern. Professor Murphy war noch skrupelloser, als er gedacht hatte.
Algernon und Leyla hatten keinen Erfolg und kehrten müde zurück.
»Mann, das war vielleicht ein langweiliger Tag«, beschwerte sich Algernon. »Ich bin mir vorgekommen wie ein Baum. Der darf auch nie seinen Platz wechseln. Ich hatte schon Angst, dass mir Blätter an den Pfoten wachsen!«
»Ich habe mir die Zeit vertrieben, indem ich mir selbst Geschichten erzählt habe«, sagte Leyla gelassen. »So ist der Tag schneller vergangen.«
»Warum hast du mir die Geschichten nicht erzählt?«, fragte Algernon. »Dann hätte ich auch etwas davon gehabt.«
»Du hättest sicher nur wieder herumgemeckert und mir den Spaß verdorben«, gab Leyla zurück. Sie war zu keinem weiteren Gespräch mehr bereit, sprang in ihre Kiste und rollte sich dort zusammen.
Die nächste Schicht übernahmen Edgar und Sue. Leyla hatte nichts dagegen einzuwenden, und Algernon brummte nur: »Mister Silver wird sowieso nicht auftauchen. Macht euch einen schönen Tag!«
Es war noch kälter als zuvor, und ein schneidender Wind pfiff durch die Straßen. Über Nacht hatte es geschneit. Die Straßen und Gehsteige waren mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die sich im Verlauf des Vormittags in ekligen Matsch verwandelte. Die Geräusche der Stadt kamen Edgar etwas gedämpfter vor; das machte der Schnee, er schluckte den
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