Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)
etwas anderes als ein vorübergehender irrationaler Systemfehler, mehr als der periodische Evergreen von »Systems gone wild«. Man kann nicht einfach Maschinen »abstellen« oder, wie nach Fukushima, eine Energiewende verkünden. Der Satz von den »Monstern« zeigt, wie sehr das kollektive Unterbewusste den Verdacht hegt, dass es sich um etwas Lebendiges handelt, das hier entfesselt worden ist.
Feldforschungen der österreichischen Soziologin Karin Knorr Cetina an den Börsenplätzen New York und Zürich haben gezeigt, dass Trader ihre digitalen Handelssysteme nicht mehr als Kommunikationsmittel, sondern als eigenständige biologische Lebensformen und als so etwas wie ein »höheres Geschöpf« (»greater being«) erleben. 168 In der Verschmelzung zwischen Mensch und Maschine sind die Computerbildschirme, anders als in den Neunzigerjahren, schon keine »Fenster« in die Märkte mehr, sondern die Märkte selbst – oder besser: »Bauplätze, auf denen die gesamte ökonomische und geistige Welt errichtet wird«, eine Transformation, die sich auch in den »privaten« sozialen Netzwerken wie Facebook vollzieht.
Konsequenterweise verschmelzen nun auch alle Definitionen des Marktes zu einer einzigen. Im Gespräch mit einem erfahrenen Trader, der an fast allen Börsen der Welt gehandelt hat, haben Wissenschaftler die Frage gestellt:
Was ist für Sie der Markt?
Die Antwort des Traders: Alles.
Frage: Und was ist für Sie Information?
Antwort: Alles.
Wer kauft, wer verkauft, wo es geschieht, wo das Zentrum ist, was die Zentralbanken tun, was die großen Fonds tun, was die Presse sagt, was mit der CDU passiert, was der malaysische Premierminister sagt: Es ist alles – alles und immer. 169
Eine starke gesellschaftliche Intuition spürt, dass diese Verschmelzung einen neuen Menschen schafft. Sie empfindet den fast alchemistischen Prozess, in dem der Einzelne von den Apparaten des enthemmten Informationsmarkts geschaffen wird – und gerade dann, wenn der Einzelne ein Täter war, so wie beispielsweise der französische Börsentrader Jérôme Kerviel, der seinem Arbeitgeber, der Société Générale, 2008 einen Verlust von 4,8 Milliarden Euro bescherte. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise wurde Kerviel in den Augen der französischen Öffentlichkeit fast eine Art Che Guevara, der ein System, das ein bestimm tes ökonomisches Verhalten verlangt, durch ebendieses Verhalten in die Luft sprengt. Das klang, wenn man seine Unterstützer auf Facebook oder die französische Presse las, fast schon wie ein Kapitel aus der »Matrix«-Trilogie.
Kerviel war der Inbegriff des Cyborgs, des mit der Maschine verschmolzenen Menschen, der auf seinem Bildschirm Zahlen nicht mehr als feste Größen, sondern als reine Liquidität, als einen sich ständig wandelnden elektrischen Strom, wahrnahm. »Sagen Sie mir, wer Sie sind – wer ist Mr. Kerviel?«, fragte der Richter zu Beginn des Prozesses.
Nicht ohne Pathos, aber mit einer Rhetorik, in der sich die Wahrheit eines ganzen Systems offenbarte, stellte nach der Beweisaufnahme Kerviels Anwalt Olivier Metzner eine andere Frage: »Wer sind Sie, Société Générale? Wer sind Sie? Wie haben Sie solch einen Menschen schaffen können?« 170
Man hat das schon einmal gehört. Es ist die Frage an Dr. Viktor Frankenstein.
19 Mind’s Eye
Die marktkonforme Demokratie wird gebootet
W as für eine Politik macht Nummer 2? Oder präziser: W ie sieht sein Wunsch-Staat aus? Worin leben wir, wenn er sein Werk vollendet und die gesellschaftlichen Institutionen alle im Griff hat? Und für den, der weiß, dass besonders umstrittene Politikerworte nichts anderes als Spielzüge sind: Was bedeutet »marktkonforme Demokratie«?
Es bedarf keiner Erläuterung, dass Nummer 2 und seine vermillionenfachten Klone nicht mehr nur das wollen, was ihre Auftraggeber wollen. Die Flash-Crashs zeigten, dass die Söldner mittlerweile außerhalb menschlicher Kontrolle agieren. Das ist kein Unfall, sondern entspricht genau dem, was ihre Schöpfer wollten; sie wären bestimmt nicht durch die Maschine von Chicago gegangen, wenn sie jetzt das Heer von Automaten befehligen wollten.
Was sie wollten, war ganz aufrichtig: eine Gesellschaft, in der jeder frei nach seinen Wünschen und Leidenschaften leben kann. Auch die Agenten, auch die Dummys. Deshalb wissen viele derjenigen, die in Finanzsystemen evolutionäre Agenten gebaut haben, längst nicht mehr, was ihre Geschöpfe eigentlich tun, nur dass sie es höchstwahrscheinlich immer
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