Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)
heute erreichten Wirklichkeit unterscheidet. Er sagte das Entstehen einer digitalisierten »Wissens-Industrie« voraus, in der der »Intellekt eine Angelegenheit des nationalen Interesses wird … ein Bestandteil des militärisch-industriellen Komplexes«. 224 Gesagt, während in Südostasien der Vietnamkrieg tobte, war klar, dass Denken jetzt Kriegsführung werden sollte. Denn das neue »Wissen« hatte nichts mehr mit dem zu tun, was Generationen unter dem Wort verstanden. Es setzte noch nicht einmal theoretisches Denken voraus.
Der Philosoph Gilbert Ryle, auf den sich der Universitätskanzler bezog, machte für die Missverständnisse, die, wie er fand, fatale Unterscheidung von Geist und Körper verantwortlich. Es sei auch Wissen, wenn man eine Handlung ohne weitere Überlegung auszuführen wisse. Intelligentes Handeln bestehe aus der Anwendung von Regeln: Tun ist bereits eine mentale Operation.
Das unterscheidet sich in nichts von den Vorstellungen, die im Kerzenschein der alchemistischen Labors ausgebrütet wurden, nur dass jetzt das Laboratorium sich vollständig verändert hat. Es waren die »Maschine«, der »Apparat« und vor allem der Großcomputer, die symbolisches Handeln sofort in Wirklichkeit umsetzten.
Die damaligen Studenten verstanden das instinktiv. Viele von ihnen hatten die Lochkarten um den Hals hängen, mit denen die damaligen Universitäten Studenten und Personal managten. Einer hatte den Warnhinweis, den die Karten trugen, abgewandelt: »Ich bin ein Student. Bitte nicht falten, knicken oder verunstalten.«
Jahrzehnte später sagt einer der erfolgreichsten Karriere- und Lebenslaufmanager der Informationsökonomie, der Linkedin Mitbegründer Reid Hoffman, dass jeder Mensch ein »Start-up-Unternehmen« werden muss. Und er zitiert den Cyber-Propagandisten Marc Andreessen so: »Märkte, die nicht existieren, interessiert es nicht, wie klug du bist. Es ist also völlig egal, wie hart du gearbeitet hast oder wie leidenschaftlich du deinen Interessen folgst: Wenn dich niemand für deine Dienste auf dem Stellenmarkt bezahlt, wird es ziemlich hart. Du hast kein Recht auf irgendwas.« 225
Dass man nur ist, was man tut, und dass man nur tut, wofür es einen Markt gibt, und dass es nur einen Markt gibt für das, wofür man bezahlt wird, ist das Mantra der neuen Identität.
Im alchemistischen Labor begann jedes Werk mit der Vorstellung der chaotischen Urmaterie, aus der etwas geschaffen werden sollte. Entsprechend lokalisiert der Informationskapitalismus das Chaos im Ich: »Du bist nicht auf einem ruhigen See. Du bist auf einem chaotischen Ozean … Hochtrabende Fragen nach der Identität und dem moralischen Zweck des Handelns brauchen eine lange Zeit, um beantwortet zu werden, und die Antworten verändern sich.« 226
Es ist konsequent, dass wer so denkt, ein neues »Zeitalter des Undenkbaren« verkündet. »Undenkbar« in des Wortes fundamentalster Bedeutung: eine Welt, in der alles, was gedacht wird, getan wird, weil es sofort digitale Spuren hinterlässt, die nur noch mathematisch – zum Beispiel von Linkedin – ausgewertet werden können. Doch damit wird das Leben selbst zu einer Börse.
Die Börsencrashs der Gegenwart, die »Schwarzen Schwäne«, die Frakturen, die in der Kuppel des Systems entstehen, zeigen in den Augen Reid Hoffmans, immerhin der Verwalter von Millionen von Lebensläufen, dass Volatilität, sinkende und fallende Lebenskurse, zur neuen Existenznorm werden:
»Fragilität ist der Preis, den wir für eine Welt, die mit Hyperlinks verbunden ist, zahlen werden, eine Welt, in der alle Puffer aus dem System wegoptimiert wurden. Die Ökonomie, Politik und der Arbeitsmarkt bergen eine Menge unerwarteter Schocks. In diesem Sinn wird die Welt von morgen mehr wie das Silicon Valley von heute aussehen: dauernder Wechsel und Schocks.« 227
Der Mensch nach Hoffman ist ständig im Radarmodus. Er weiß, dass seine Lebensform fragil ist, und wenn er nicht wie ein Börsentrader ständig bereit ist, Chancen zu nutzen, riskiert er »eine riesige Explosion in der Zukunft«. Der Mensch selbst wird nun zu einer vollkommenen Verkörperung von Nummer 2. Er screent die Mitspieler, die vom gleichen Ehrgeiz und dem ausschließlichen Wunsch nach Profitmaximierung getrieben sind, und er schreibt sich gewissermaßen seine eigenen Risikoversicherungen. »Indem du systematisch Volatilität in dein Leben einbaust, gelingt es dir, die ›Schocks mit Würde zu absorbieren‹«. Kurzum: der Mensch als Trader
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