Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
geworden, dass der große Vorteil, in dieser sinnlos zersiedelten Gegend zu wohnen, darin bestand, dass man nie im Leben jemandem wiederbegegnen würde. Vor Jahren, als frischgebackener und erwartungsfroher Hochschulabsolvent, hatte er an Berlin am schönsten gefunden, dass man nicht einmal einen Kaffee trinken gehen konnte, ohne ein halbes Dutzend Bekannte zu treffen. Nach ein paar Monaten fand er genau dies das Schlimmste an Berlin. Wenn man sich dort erniedrigte, um ein Mädchen ins Bett zu bekommen, begegnete man ihm für den Rest des Lebens zwei Mal die Woche – ein Hühnerauge an der Sohle deiner Welt. Hier wären sie einfach weg. Alle Exfreundinnen, Rivalen, Gläubiger, Nassauer: Man wich ihnen allein dadurch aus, dass man nicht extra nach ihnen suchte. Was für eine sichere, logische Art zu leben das wäre, durch Dispersion vor dem Zufall geschützt. Auf diese Beobachtung war er so stolz, dass er im Kopf einen Absatz für seine nächste Postkarte an Achleitner aufzusetzen begann. Leider war sie in Gefahr, widerlegt zu werden. »Ist das ein Stent Mutton, den Sie da haben?«, sagte die Frau. »Ich bin ganz verrückt nach Stent Mutton.«
»Ich auch!«
»Mein Mann ist oberflächlich mit ihm bekannt. Sie haben sich im Athletic Club kennengelernt. Er soll eine unglaublich hübsche Frau haben. Ihr Haus ist nicht weit von hier.«
»Wirklich?«
»Ja. Da hinten, kurz vor der Stelle, wo der Canyon auf den Strand trifft. Sie können es gar nicht verfehlen. Es sieht ein bisschen wie ein Gewächshaus aus.«
Loeser wusste nicht, was er sich davon erwartete, Muttons Haus zu sehen, aber der Besuch der heiligen Stätte wäre genug, das Martyrium dieses Tages wieder wettzumachen. Er trank sein Glas Wasser aus und wandte den Blick meerwärts.
Das Haus der Muttons
Die Sonne stand Loeser auf seiner Wanderung nach Westen im Gesicht, und so konnte er sein Ziel erst aus unmittelbarer Nähe erfassen und eines höchst überraschenden Widerhakens in der Ontologie dieses fernen Landes gewahr werden. Dort, auf einer Erhebung, die sich auf das Angenehmste zum Strand hin senkte, stand Blumsteins Anwesen aus Schlingendorf – den ganzen Weg aus Berlin hierher gezogen von einem unermüdlichen amphibischen Verwandten des Lastschleppers, den er auf dem Sunset Boulevard hatte feststecken sehen. Die Maße des Hauses waren identisch, aber das seltsame Licht in diesem Land hatte es wundersam verwandelt, es zum Homonym zergliedert: Der gleiche Aufbau zeitigte ein anderes Ergebnis. Daheim in Berlin war das Haus selbst im Sommer noch ein Einweckglas, in dem man Wolken in Essig einlegte, aber hier wirkten die Wände in der grellen Sonne geradezu wässrig, instabil, wie ein Käfig aus gebrochenem Licht. An einem Esstisch aus Redwood-Holz am Pool saß eine blonde Frau und schrieb einen Brief. Als Loeser näher kam, blickte sie auf.
»Wohnt hier Stent Mutton?«
»So ist es. Ich bin seine Frau.«
»Ich heiße Egon Loeser. Ich komme aus Berlin. Ich bin hier, um Mr Mutton zu sehen.« Was nicht völlig gelogen war, dachte Loeser, denn er wollte den Autor wirklich sehr gern kennenlernen, aber ganz ehrlich war es auch nicht, da man es so verstehen konnte, als wären sie verabredet, als hätte er vielleicht sogar für dieses lange vereinbarte Zwiegespräch den Atlantik überquert.
»Sie hätten vorher anrufen sollen. Ich fürchte, er empfängt heute niemanden. Er ruht sich drinnen aus. Wir sind gestern Abend erst zurückgekommen, und die Reise war grässlich.«
»Zurückgekommen?«
»Aus Moskau.« Muttons Frau nahm mit fragender Geste die Sonnenbrille ab. Als die Frau im Baumwollkleid sie unglaublich hübsch genannt hatte, war das eine geradezu verleumderische Untertreibung gewesen. Und ihr Körper war von einer so zuckrigen, sonnensatten Reife, dass er in keinem anderen Klima hätte gezüchtet werden können. »Sie kommen aus Berlin, sagen Sie? Wie lange bleiben Sie in Los Angeles?«
»Nicht länger als zwei Wochen.«
»Sie sind so eine Art Künstler. Oder vielleicht Schriftsteller.«
»Ich bin am Theater. Woher haben Sie das gewusst?«
»Sie sehen danach aus. Mein Mann und ich kennen uns mit der Lage in Deutschland nicht sehr gut aus, Mr Loeser, aber wir wissen, dass sie sehr schwierig ist.« Was meinte sie damit? Dass es schwierig war, eine ins Bett zu bekommen, wenn man nicht Brecht war? Würde sie ihn gleich einladen, heimlich, still und leise im Gebüsch über sie herzufallen? »Ich weiß nicht, wie man Sie hier draußen bisher
Weitere Kostenlose Bücher