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Ehebrecher und andere Unschuldslaemmer - Roman

Ehebrecher und andere Unschuldslaemmer - Roman

Titel: Ehebrecher und andere Unschuldslaemmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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Pfarrer Hoffmann. Im Grunde war es auch egal. Unauffällig legte ich die Hand auf meinen Bauch und streichelte ihn. Zum ersten Mal seit Wochen war ich voller Zuversicht, ohne genau zu wissen, warum. Es war mir, als hörte ich die Stimme meines Vaters, wie sie sagte: »Denk immer daran: Es gibt kein Problem, für das es nicht auch eine Lösung gibt.«
    Während der Chor sang und Pfarrer Hoffmann scheinbar ins Gebet versunken in der ersten Reihe saß,ließ Herr Hagen den Klingelbeutel herumgehen. »Die Kollekte ist heute für diakonische Zwecke der Gemeinde gedacht«, hatte Pfarrer Hoffmann gesagt, »und am Ausgang sammeln wir für ›Brot für die Welt‹. Ich hatte ein Fünfmarkstück in der Tasche, das wollte ich lieber für ›Brot für die Welt‹ hergeben als für ›diakonische Zwecke der Gemeinde‹. Dahinter verbargen sich nämlich unter anderem die Tagesausflüge für die ehrenamtlichen Mitarbeiter (Frau Hagen zum Beispiel), und die wollte ich ungern mitfinanzieren.
    Ohne mit der Wimper zu zucken, reichte ich den Klingelbeutel an Frau Klein weiter, die einen zusammengekniffenen Schein hineinlegte und mich, wie mir schien, tadelnd ansah.
    » Es ist viel Not vorhanden hier und in allen Landen «, sang auch der Chor vorwurfsvoll. Er war ganz eindeutig sopranlastig. Die tiefe Stimme meines Vaters fehlte schmerzlich. Vor allem mir. Es ist viel Not vorhanden … ach ja, ach ja.
    Herr Hagen reichte den Klingelbeutel in die Reihe, in der Gilberts Mutter saß, und formulierte den Text des Chorliedes lautlos mit. » Dass wohl ein Herz möcht zagen, aus Furcht vor großen Plagen «, intonierte er unhörbar.
    … aus Furcht vor’m dicken Hagen wäre passender, dachte ich und grinste vor mich hin. Der alte Mann neben Lydia Kalinke kramte in seiner Jackentasche herum, während der Klingelbeutel auf seinen Knien lag. Zuerst zog er ein zerknittertes Stofftaschentuch hervor und schnäuzte sich ausgiebig, dann nahm er seine Brieftasche heraus und entnahm ihr, weithin sichtbar, einen Hundertmarkschein, den er glattstrich und anschließendmehrmals faltete. Bastelte er einen Papierflieger daraus oder sogar einen Kranich? Es dauerte jedenfalls eine Ewigkeit, bis er sein Origamiwerk endlich in den Klingelbeutel steckte, und dann fiel auch noch sein Taschentuch hinterher. Der alte Mann merkte es nicht mal.
    Der Chor hatte seinen Gesang bereits beendet und der Pfarrer schon wieder seinen Platz hinter dem Altar eingenommen, als der Klingelbeutel an Gilberts Mutter weitergereicht wurde. Mit einem liebenswürdigen Lächeln fischte sie das Taschentuch aus dem Beutel und reichte es dem alten Mann. Sie hatte dunkellila lackierte Fingernägel, zwischen denen ein Zweimarkstück funkelte, das sie mit einem leisen Klirren zu dem anderen Geld fallen ließ.
    »Erhebt euch für den Schlusssegen!« Pfarrer Hoffmann breitete die Arme aus und schloss die Augen.
    »Mooooooment mal«, zischte Herr Hagen und schob seine massige Gestalt an dem alten Origami-Herrn vorbei, um Gilberts Mutter am Arm zu packen. »Geben Sie sofort den Hundertmarkschein wieder her! Ich habe genau gesehen, wie Sie ihn herausgenommen haben!«
    Lydia Kalinke versuchte sich loszureißen. »Was soll das? Lassen Sie mich los! Was fällt Ihnen ein!«
    Pfarrer Hoffmann hielt weiter die Arme ausgebreitet und die Augen geschlossen. Es sah beeindruckend aus, als würde er nicht auf dem Jahnsberger Kirchenhügel, sondern auf dem Zuckerhut in Rio de Janeiro stehen, aber niemand sah mehr zu ihm hin. Alle Blicke weilten auf der rothaarigen Frau, die in ein heftiges Handgemenge mit Herrn Hagen verstrickt war.
    »Der Herr segne und behüte dich. Er lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig«, sagte Pfarrer Hoffmann.
    »Diebin!«, rief Herr Hagen. »Das ist mir noch nie untergekommen! Sie dachten wohl, ich sehe das nicht, was?«
    »Lassen Sie mich sofort los!«, rief Lydia Kalinke.
    »Polizei!«, keuchte Herr Hagen. Seine Frau war aufgesprungen, um ihm zu Hilfe zu eilen.
    Gilberts Mutter trat Herr Hagen gegen das Schienbein.
    Herr Hagen packte sie nur noch fester. Ich vermutete, sein Schienbein war so gut gepolstert, dass ihm der Stiefel nichts anhaben konnte. »Sie bleiben schön hier, bis die Polizei kommt!«
    Frau Hagen baute sich drohend im Mittelgang auf. In ihrem grauen Mantel sah sie aus wie ein Hydrant mit Armen. Sie versperrte den einzig möglichen Fluchtweg.
    »Loslassen!«, schrie Lydia Kalinke und schlug wild um sich. Ich fragte mich, wo sie wohl als Nächstes

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