Ehre sei dem Vater (German Edition)
Zweifel aufkommen ließ, wer auf dem Hof und in
der Familie das Sagen hatte. Eine derartige Sitzordnung wäre früher undenkbar
gewesen. Julians Blick schweifte kurz auf die Straße vor ihm, um den alten Mann
auf der Rückbank nicht allzu offensichtlich zu mustern, kehrte aber umgehend
wieder zu ihm zurück. Sein Vater hatte sich in den letzten Jahren sicherlich
ein wenig verändert, das hatte Julian auch auf den Fotos, die Barbara ihm vor
kurzem gezeigt hatte, festgestellt, aber er musste sich eingestehen, dass ihn
sein heutiger Anblick erschreckt hatte. Seine Haare hatten sich schon vor
Jahren gelichtet und auch die graue Farbe war es nicht, die Julian
zusammenzucken ließ. War es die hagere Gestalt und das unrasierte Gesicht oder
schlichtweg die Erkenntnis, dass sein Vater alt geworden war? Schmerzlich wurde
ihm bewusst, wem der falsche Stolz seines Vaters am meisten geschadet hatte. Der
müde Blick, die unzähligen Kummerfalten und die fahle Gesichtsfarbe seines
Vaters sprachen Bände. Doch heute hatte Julian zum ersten Mal eine Güte in
seinen Zügen, in seinen Augen entdeckt, die ihn wieder hoffen ließ.
„Du glaubst gar nicht, wie erleichtert wir
waren, als wir erfahren haben, dass es dir gut geht“, unterbrach Barbara,
leicht verlegen, die Stille, während sie bereits in den Hof einbog. „Mutter -
sie war ja in der Zwischenzeit für ein paar Tage im Krankenhaus - wäre vor
Freunde fast wieder ohnmächtig geworden“, witzelte sie.
„Tut mir leid …“, murmelte Franz mehr zu sich
selbst, als der Wagen vor der Garage zum Stillstand kam.
Er brauchte einige Sekunden, bis er realisierte, dass er endlich zuhause
angekommen war. Julian und Barbara saßen noch auf ihren Plätzen, als die Tür
auf seiner Seite stürmisch aufgerissen wurde. Markus und Harald, seine Enkel,
standen strahlend vor ihm und sprachen wild durcheinander. Er sah von einem zum
anderen und hatte trotz des Durcheinanders keine Mühe zu verstehen, was ihm die
beiden sagen wollten. Allem Anschein nach schienen sie sich zu freuen, ihn, den
ständig nörgelnden alten Mann, wieder bei sich zu haben. Ronny hatte sich
endlich durch die Kinderbeine hindurchgedrängt und
sprang lauthals bellend ins Innere des Wagens, wo er seine Vorderpfoten auf die
Oberschenkel seines Herrchens stellte und Anstalten machte, sein Gesicht abzuschlecken.
„He, was sind denn das für neue Sitten?“,
wehrte Franz ab. „Wird Zeit, dass dir endlich wieder jemand Manieren
beibringt!“, murrte er. Mit gestrenger Miene schob er den Hund zur Seite,
stützte sich am Türrahmen ab und stieg aus. Als seine Enkel merkten, dass er
dabei schmunzelte, brachen sie einstimmig in Gelächter aus. Sie machten noch
einen Schritt auf ihn zu und legten gleichzeitig, wie automatisch, von beiden
Seiten die Arme um ihren Großvater. Franz war überwältigt von seinen Gefühlen,
von der ungewohnten Nähe und versuchte nur den Moment zu genießen, keine
Gedanken an seinen Vater, an die Erpressung und schon gar nicht an seine
Feigheit, vor allem nicht an die verlorene Zeit zu verschwenden..........
Doch der Hund ließ nicht von ihm ab, bevor er
sich zu ihm hinabbückte und ihn liebevoll hinter den
Ohren kraulte. „Ist ja gut“, sagte er, „du hast mir auch gefehlt.“
Erst jetzt bemerkte er im Hintergrund seine
Frau. Sie stand allein an der Hausmauer und beobachtete alles. Anna schien zu
begreifen, was in diesem Moment in ihm vorging, wollte gern daran beteiligt
sein und zögerte trotzdem fast ängstlich davor, sich einzumischen. In diesem
Moment liebte Franz sie mehr, als er sich jemals eingestanden hatte.
Als er sie wenig später in seine Arme
schloss, schämte er sich nicht, als ihm Tränen über die Wangen liefen.
November 2005
Ein letztes Mal für lange Zeit, war sie auf dem Weg zu ihrem Aussichtsplatz, in
der Hoffnung, einen klaren Kopf zu bekommen. Sie trug einen dicken Wintermantel
und ein Stirnband, obwohl heute ein außergewöhnlich milder Tag war. Die Sonne schien
vom beinahe wolkenlosen Himmel und verlieh den abgefallenen, braun-rötlichen
Blättern des herbstlichen Mischwaldes, die den Boden zu ihren Füßen
pflasterten, einen goldenen Schimmer. Evas Mantel war bis zum Hals zugeknöpft
und dennoch hatte sie das Gefühl, den Wind bis auf die nackte Haut zu spüren. Dazu
schlug der Fotoapparat, der außen über dem Mantel pendelte, bei jeder Bewegung
unsanft an ihre Brust. Sie verschränkte die Hände vor ihrem Körper, und während
sie ihre Schritte beschleunigte, sah
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