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Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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habe alles, was ich geschrieben hätte, Wort für Wort gelesen – auf der Suche nach Hinweisen, Spuren meiner Persönlichkeit. Wir sollten einen Moment Zeit für eine Unterhaltung finden, sagte er. Vielleicht beim Kognak nach dem Essen. Ich deutete wortlos eine Verbeugung an. Als er gegangen war, schlenderte ich zu Corinne hinüber und blieb an ihrer Seite, bis wir zu Tisch gebeten wurden. Daß man mir den Platz rechts von Gilberte geben würde, hatte ich erwartet. Daß ich zwischen Gilberte und Corinne saß, war eine angenehme Überraschung. Ich freute mich schon auf unsere Unterhaltung. Aber kaum hatten wir ein paar Worte gewechselt, beteiligten sich alle am Tisch an einer sehr lebhaften Unterhaltung über das Abkommen, das Sadat und Begingerade in Camp David unterzeichnet hatten. Vielleicht aus Rücksicht auf Henry, vielleicht aus Hochachtung vor Sadat hörte man keine antisemitische Bemerkung am Tisch; falls Antisemiten an dieser Zusammenkunft der herrschenden Klasse Belgiens teilnahmen, hüteten sie ihre Zungen.
    Nach dem Dessert erhoben sich die Damen auf ein Zeichen von Gilberte und folgten ihr in den Salon. Die Männer wurden von Hubert in die Bibliothek geführt. Da mir Zigarrengeruch zuwider war, suchte ich mir einen Sessel neben einem offenen Fenster und setzte mich, um meinen Kaffee zu trinken. Ich hing meinen Gedanken nach, über die Leichtigkeit, mit der sich Henry in dieser Umgebung bewegte, über seine offenkundige Freude an der Welt, die Hubert ihm eröffnete. Oder die er sich selbst erschlossen hatte. Physisch hatte er sich nicht verändert – oder weniger als alle anderen aus meinem Jahrgang am College –, und auch in anderer Hinsicht, abgesehen davon, daß er in den zehn Jahren seiner Arbeit als Partner fast erschreckend geschickt und kompetent geworden war, blieb er immer noch der alte Henry, mein Freund seit beinahe dreißig Jahren. Er wollte die Führung übernehmen, und er hatte sie, und es fiel kaum ins Gewicht, daß die Macht in dieser eigenartigen Umgebung von Hubert ausging. Seine Stellung war Resultat seiner eigenen Anstrengung und sein eigenes Verdienst; die Intervention der van Dammes, mère et fils, hatte ihm den Start erleichtert, aber nicht mehr als das. Nur einen großen Mißerfolg hatte er erlitten, den in seiner Beziehung zu Margot. Beide steckten im Treibsand.
    Mein Gedankengang wurde von Jacques Blondet unterbrochen, der sich einen Stuhl heranzog und ohne Präliminarien sagte, er gehe davon aus, daß ich Henry besser als irgend jemand sonst kennte. Er wartete auf eine Antwort, merkte, daß ich ihm keine geben wollte, und fügte dann hinzu, damit zwinge er mich zu einer Äußerung, die manals Mangel an Bescheidenheit auslegen könne. Für ihn sei das ein Schluß aufgrund von klarem Beweismaterial: Eine so weit zurückreichende Bekanntschaft, die auch Henrys verstorbene Eltern eingeschlossen hatte, und der allgemeine Eindruck, daß ich auf Henrys Seite stünde und immer gestanden hätte, seien Beweis genug. Er hielt wieder inne, als ob er mir die Chance zu einer Äußerung geben wolle, und teilte mir dann mit, daß in der langen Zeit seiner Zusammenarbeit mit Hubert de Sainte-Terre, seit dieser nach dem Tod seines Vaters die Geschäftsführung übernommen habe, niemand Huberts Vertrauen so vollständig gewonnen habe wie Henry, nicht einmal er, Jacques, selbst, obwohl er schon seit seinem Examen – er sei Absolvent der École Polytechnique in Paris – für den alten Comte de Sainte-Terre gearbeitet habe. Niemand habe die Struktur und Dynamik der Sainte-Terre-Unternehmen so genau begriffen. In seinen Augen sei das ein wahrhaftes Meisterstück.
    Je mehr Monsieur Blondet redete, um so unsympathischer wurde er mir, aber ich gab ihm recht und sagte, Henry sei in der Tat ungewöhnlich intelligent und ungewöhnlich leistungsfähig und außerdem ein loyaler Freund.
    Eigenschaften, die Ihnen und ihm gemeinsam sind, bemerkte Blondet. Dann erklärte er mir, daß diese unschätzbaren Charakterzüge manchmal zu einer gewissen Maßlosigkeit im Verfolgen der Ziele des Mandanten führen, vor allem, wenn dieser der Freund des Beraters ist. Verstehen Sie, was ich meine, fragte er.
    Ich schüttelte den Kopf.
    Ich gebe Ihnen ein Beispiel, sagte er. Ein geschickter und sehr harter Verhandlungspartner könnte durchaus zu Recht beschließen, das Skelett des Gegners nicht bis auf den letzten Fetzen Fleisch abzunagen. Weil er nämlich auf seinen Ruf achtet. Lieber würde er in ein paar Punkten

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