Ehrensachen
Meinung nach wissen sollte.
Ich schrieb im Auftrag einer amerikanischen Wochenzeitung an einem Artikel über das Anfangsjahr des französischen Sozialismus. Ich hatte gehofft, die Arbeit würde mich von Henry ablenken, aber sie erinnerte mich ständig an ihn und seine Probleme. Ich rief noch einmal bei Margot an. Aber weder sie noch ein Anrufbeantworter meldeten sich, obwohl ich es immer wieder versuchte. Ich fragte meinen Lektor, ob er wisse, wo Margot und Jean sein könnten. Er gab seine Verwunderung über meine Ahnungslosigkeit zu erkennen und sagte dann, es sei wohl keine Indiskretion, wenn er mir erzähle, was in Literatenkreisen allgemeines Gesprächsthema sei: Margot sei mit einem amerikanischen Filmemacher – er nannte einen Namen, den ich nicht kannte – durchgebrannt, der kleine Junge sei in der Schweiz und Jean auf Reisen. Eine Art Lese- und Vortragsserie in Québec. Von Margot wisse er nichts Näheres.
Vier Tage später meldete Henry sich. Schau, du bist mein ältester Freund, sagte er. Dir kann ich nichts vormachen. Die Wahrheit ist, daß ich mich zu einer drastischen Veränderung in meinem Leben entschlossen habe – das heißt, genau gesagt, bin ich noch ein paar Zentimeter von der Entscheidung entfernt –, ich muß nachdenken, und jedenTag kommt mir eine Menge Zeug dazwischen, meistens Bürokram, so daß ich keinen Entschluß fassen kann. Nimm’s mir nicht übel, wenn ich mich eine Weile unsichtbar mache: Ich brauche vielleicht drei Wochen. Sobald »der Verstand sich überzeugt, daß alles klar vor Augen steht«, können wir uns wieder treffen.
Ich wußte nicht, ob dies eine gute oder eine schlechte Nachricht war; jedenfalls war sie wichtig. Und zugleich so vage, daß ich Henrys Vertrauen wohl nicht mißbrauchte, wenn ich sie kurz darauf an George weitergab.
Er sagte: Das ist ziemlich genau das, was er Jake Weir, unserem neuen leitenden Partner, erklärt hat. Gut, daß Henry in Jake einen echten Fan hat.
Mein Agent rief mich am selben Tag an, um mir mitzuteilen, daß ein sehr bekannter Regisseur einen Film drehen wollte, der meine Romantrilogie aus den späten sechziger und frühen siebziger Jahren zur Grundlage haben sollte. Bevor er sich vertraglich band, wollte er mich kennenlernen, und das war auch mein Interesse. Ich hinterließ bei Henrys Sekretärin eine Nachricht, daß ich an die Westküste ginge, telefonisch zu erreichen sei und auf jeden Fall in einer Woche wiederkäme. Eine Notiz mit demselben Inhalt gab ich in seinem Apartment ab. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme rief ich meinen französischen Verleger an und bat ihn, Margot zu sagen, wie sie mich erreichen könne, falls sie wieder auftauchte.
Die Besprechungen zogen sich hin, und ich verlängerte meinen Aufenthalt an der Westküste um eine Woche. Aber meine Angst um Henry wuchs, und ich rief jeden Abend nach Pariser Zeit in seinem Apartment und während des Tages in seinem Büro an. Entweder war er mit dem Nachdenken noch nicht zu Ende und nicht zu erreichen, oder seine wunderbar gelassene und höfliche Sekretärin log in seinem Auftrag. Selbstverständlich wäre es vernünftig gewesen, meine Reise zu unterbrechen und ein paar Tage in New York zu bleiben, aber ich entschied mich dagegen und kam am Totensonntag in Paris an. Die Stadt war leer und glänzte vor Regennässe.
XXXIII
Du dürftest fast alles über dich wissen, sagte Henry, als wir uns das nächste Mal trafen. Du hast so früh mit dem Schreiben angefangen – und du bist schon ewig lange bei einem Psychiater in Behandlung. Ich kann mir nicht vorstellen, daß zwischen der Analyse und deinen Romanen auch nur ein Quadratmillimeter deines Selbst unerforschtes Gebiet geblieben ist.
So einfach ist es nicht, erwiderte ich. Wir verändern uns. Wir üben uns im Täuschen. Durchschaust du eine erfinderische Maskerade, entdeckst du im selben Moment dahinter eine andere. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob hinter allen meinen Masken je ein wahres Selbst versteckt war – es sei denn, dieses Selbst wäre die Summe meiner privaten Lügen und Klitterungen.
Vielleicht komme ich eines Tages auch zu einem solchen Schluß, sagte Henry; ich stehe erst ganz am Anfang. Diese abstoßende Geschichte mit Hubert de Sainte-Terre und l’Occident hat mich angewidert und ausgelaugt, aber eine ihrer Folgen ist mir willkommen: Ich habe nichts zu tun, also denke ich ausnahmsweise an mich statt an meine Mandanten und an die wundersamen Ergebnisse, die ich für sie zustandebringen kann. Ich
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