Ehrensachen
widersprechen. Aber das ist nicht der Grund. Du hast gehört, wie sie das Buch beschrieb. Der Wall ist ein Roman über das Warschauer Ghetto und schildert, was die Deutschen den Juden in Polen angetan haben. Davon träume ich nachts. Es sind schlimme Alpträume. Wenn ich aufwache, habe ich Angst. Manchmal kann ich nicht wieder einschlafen, und manchmal will ich es auch gar nicht, weil ich fürchte, daß sich dann derselbe Film wieder abspult. Nirgends ein Fluchtort, nirgends ein Versteck. Am Ende finden sie dich immer. Warum sollte ich darüber beim Essen mit zwei Damen diskutieren, die mir ganz fremd waren, und das auch noch vor deinen, Margots und Georges Ohren? Oder mit einem Literaturkritiker? Das ist unangenehm und ungehörig. Außerdem mag Der Wall in seiner Art ein gutes Buch sein, und Mr. Weeks kann davon halten, was er will, aber ich finde es ärgerlich. Mich ärgern Herseys Erfindungen – zum Beispiel all die Gespräche –, auch wenn sie bestimmt auf einer sehr sorgfältigen Materialsammlung beruhen und auch wenn Hersey große Achtung vor dem Leid und große Bewunderung für den Mut der jüdischen Kämpfer zeigt und was weiß ich noch. Und wenn jemand unbedingt einen historischen Roman über das Warschauer Ghetto verfassen will statt einer nüchternen historischen Darstellung, dann kann er es wahrscheinlich nicht besser machen als Hersey mit seinem Buch. Doch das heißt nicht, daß es eine gute Idee ist. Oder daß irgend jemand erwarten darf, daß ich ein solches Buch lese. Oder mich daran »freue«, was immer das heißen soll. Soll ich es vielleicht lesen, um genauer zu erfahren, was während des Krieges in Polen geschehen ist? Ich will nicht mehr erfahren. Ich weiß genug, denke ich. Und wenn ich aus irgendeinem Grund,den ich mir nicht vorstellen kann, mehr erfahren wollte, würde ich lieber ein Geschichtsbuch lesen. Oder will man sichergehen, daß ich nichts vergesse? Zufällig würde ich nichts lieber tun als vergessen, wenn ich es nur könnte.
Ich murmelte irgendwas wie: Tut mir leid, Henry. Er wehrte meine Entschuldigung ab und sagte, an ihm sei es, sich zu entschuldigen, für seine lange Rede. Bei den Misses Appleton muß ich mich wohl auch entschuldigen. Ich fürchte, ich habe ihnen ihre Dinnerparty verdorben.
Ein paar Tage später sagte er mir, daß seine Tirade gegen Herseys Buch noch einen anderen Grund habe, nämlich den Krach mit seiner Mutter, nachdem sie ihm den Roman geschenkt hatte. Er hatte den Band aufgeschlagen und sofort ihre Widmung in der rechten oberen Ecke der Titelseite gesehen. Sie hatte auf englisch hineingeschrieben: »Für meinen geliebten Sohn, damit er sich erinnert, wovor ich ihn bewahrt habe – Mommy.« Wie konnte sie nur, fragte er. Hat sie kein Ohr für Sprachen? Warum nennt sie sich Mommy? Warum nimmt sie nicht das polnische Wort? Damit könnte ich etwas anfangen. Das englische ist eine Travestie.
Ich wunderte mich nicht. Schon vor Monaten, gleich als wir uns kennenlernten, hatte er mir erzählt, daß er seine Eltern auf englisch immer mit Mutter und Vater anrede. Er bringe es nicht über sich, Mommy oder Daddy zu sagen. Seine Eltern und er seien zu spät mit der englischen Sprache in Berührung gekommen. Diese Diminutive weigerten sich, in seinem Mund Form anzunehmen. Aber Mrs. White verstand das Wort, das er statt dessen benutzte, als Beleidigung. Sie behauptete, sie fühle sich gedemütigt, vor allem vor Dritten, wenn ihr die liebevolle Anrede verweigert werde, die eine genaue Übersetzung des Worts sei, das Henry wie alle anderen normal liebesfähigen Kinder im Polnischen ganz selbstverständlich sagen würde. Auch sein Kompromißangebot, er werde seine Eltern Mom und Dadnennen, wurde abgelehnt. In diesen Wörtern hörte sie eine forsche Munterkeit, die sie nicht akzeptieren konnte und schlimmer fand als die steife kalte Anrede, auf die er sich zuerst festgelegt hatte. Wie Henry mir erklärte, wuchs sein Ärger, als er genauer verstand, welche Botschaft die Widmung enthielt und worauf das Geschenk anspielte. Ich will gar nichts gegen die Sentimentalität sagen, von der mir übel wird, erklärte er. Aber wäre sein Highschool-Abschluß nicht genau der richtige Zeitpunkt gewesen, ihm eine Atempause zu gönnen vom Krieg, von den unendlichen Geschichten über den Heroismus seiner Mutter und den ganzen Schutt, mit dem er nichts mehr zu tun haben wollte? Seine Mutter und sein Vater wußten beide, wie sehr er hoffte, daß dies alles endlich hinter ihm läge. Hätten
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