Eidernebel
bedeuten?«
»Sie sind Muggel, das geht sie gar nichts an!«
»So kommen wir nicht weiter, Herr Moraht«, sagt Swensen mit betont ruhiger Stimme. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Sie beantworten unsere Fragen oder ich nehme Sie augenblicklich fest und Sie werden erst in 48 Stunden dem Richter vorgeführt. Und wenn Sie dann immer noch nicht reden wollen, wird der Sie in Untersuchungshaft nehmen. Also, welche der beiden Möglichkeiten bevorzugen Sie?«
»Es ist doch nur ein harmloses Spiel. Und in dem Spiel muss ich mich eben an bestimmte Regeln halten.«
»Was für ein Spiel?«
»Geocaching.«
»Geocaching? Noch nie gehört. Was ist das?«
»So was ähnliches wie eine Schnitzeljagd. Die Verstecke können über geografische Koordinaten im Internet gesucht werden.«
Mielke und Swensen gucken sich irritiert an.
»Meine Filmdose ist ein Geocache, ein wasserdichter Behälter. Der Teufelskopf ist ein Tauschgegenstand und der Zettel ein Logbuch, in das sich der Geocacher einträgt und den Cache wieder an der gefundenen Stelle versteckt.«
»Ich glaube, jetzt ist der globale Irrsinn ausgebrochen«, stellt Mielke fest. »Ohne dass wir es ahnen, latschen irgendwelche Typen durch die Gegend und suchen versteckten Firlefanz. Könnte sein, dass wir unser Phantombild zu den Akten legen dürfen.«
»Wir achten eigentlich darauf, dass wir keine Muggel aufscheuchen«, widerspricht Michael Moraht.
»Was zum Teufel sind Muggel?«, faucht Mielke.
»Sie sind ein typischer Muggel. Muggel haben keine Ahnung davon, was wir machen. Deswegen passen wir besonders auf, dass die auch nichts mitbekommen, wenn wir einen Cache suchen.«
»Und wer versteckt dieses Zeug?«, fragt Swensen.
»Alle, die Lust dazu haben.«
»Und wie heißt der Mensch, der diesen Cache in Kotzenbüll versteckt hat?«
»›Seefahrer‹.«
»Wir wollen den Namen!«
»Den kennt niemand. Wir Cacher kennen uns nicht persönlich. Alles läuft anonym. Im Internet heißt er nur ›Seefahrer‹.«
Mit so etwas schlägt man sich die Nacht um die Ohren, denkt Swensen. Er fühlt sich körperlich zerschlagen und erinnert sich voller Mitgefühl an Stephan Mielke, der am Ende der Vernehmung nicht mehr aus seinem geschwollenen Auge sehen konnte. Er hatte den Kollegen vor der Vernehmung des Feldwebels nach Hause geschickt und unvernünftiger Weise allein weitergemacht.
Jetzt bekommst du die Quittung, sagt seine innere Stimme. Der Hauptkommissar fährt den Computer hoch und schwört sich, nach der Frühbesprechung sofort nach Hause zu fahren, um zu duschen und ein paar Stunden zu schlafen. Mit müden Augen ruft er die Seite einer Suchmaschine auf, gibt den Begriff ›Geocaching‹ ein und ist von der Flut der Eintragungen schier erschlagen. Er entscheidet sich für ›Geschichte des Geocaching‹ und studiert mit viel Mühe den Inhalt.
Demnach ließ am 2. Mai 2000 Präsident Clinton die künstliche Verzerrung der GPS-Signale abschalten, die ursprünglich rein militärisch genutzt worden waren. Das war der Startschuss für eine breite zivile Nutzung. Sofort verkündete der Amerikaner Dave Ulmer seine Idee von einem weltweiten Spiel, das über GPS-Navigation funktioniert. Noch im selben Monat versteckte er den offiziell ersten Geocache der Welt unter den Koordinaten N 45 17.460 – W 122 24.800 und schrieb dazu: ›Viele Überraschungen für die Finder. Sucht nach einem schwarzen Plastikeimer, der etwas abseits vom Weg eingegraben ist. Nehmt etwas heraus, lasst etwas anderes dafür darin! Haltet Euren Besuch im Logbuch fest. Viel Spaß.‹
In Deutschland begann Geocaching am 2. Oktober 2000. Ferenc Franke versteckte den ersten Cache mit dem Namen ›First Germany‹ südlich von Berlin.
Was hätte wohl Buddha zu Geocaching gesagt, überlegt Swensen nicht ohne Spott, hört aber gleichzeitig die mahnende Stimme seines Meisters:
»Auf deinem Pfad ist niemand da, dem du die Schuld für deine Situation geben kannst. Nicht einmal deinen Lehrer kannst du verantwortlich machen, der dich vielleicht diesen Weg einschlagen ließ. Nur dir persönlich kannst du den Vorwurf machen, warum du diese Reise überhaupt angetreten hast. Schuldzuweisungen bringen dich nicht weiter. Es bleibt die einzige Möglichkeit, den rechten Pfad zu finden und ihn konsequent zu folgen.«
Oktober 2003
Heinz Püchel platzt mit seiner hektischen Präsenz in die morgendliche Frühbesprechung. Jean-Claude Colditz wird mitten im Satz unterbrochen, seine Worte bleiben ihm förmlich im Hals
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