Eidernebel
fünf Minuten in der Inspektion angerufen und gemeldet haben, dass er dort bis spät in den Abend Orgel gespielt hat und beim Verlassen einen Mann gesehen habe, der mit einem Motorroller auf dem direkten Weg zur Kirche war. Dass jemand so spät zur St. Nikolai fährt, sei ihm verdächtig vorgekommen.«
»Wir sind auch immer gerade da, wo es Arbeit gibt«, mosert Mielke vor sich hin und steigt voll in die Bremse, sodass Swensen nach vorn in den Sicherheitsgurt schießt. Nach einem rasanten Wendemanöver rast der Oberkommissar die Strecke nach Tetenbüll zurück und weiter bis zur Bundesstraße 202. Das schabende Geräusch der Scheibenwischer kratzt sich durch ihr Schweigen.
Swensen denkt an Meister Rinpoche, als er ihn bei seinen Besuchen in ein Gefängnis begleiten durfte. Dort unterwies der Lama die Häftlinge einmal in der Woche in Meditation. Seinen Unterricht begann er immer mit denselben Worten: »Es ist wichtig, dass ihr euch selbst nicht als Kriminelle seht, sondern als Menschen, die eine kriminelle Tat begangen haben.« Swensen erinnert sich noch genau, dass er damals nicht nachvollziehen konnte, was Meister Rinpoche an dieser unwirklichen Situation des Weggeschlossen-Seins eigentlich verändern wollte, bis einmal, nach einer dieser Stunden, ihn einer der Gefangenen ansprach: »Du bist immer so ruhig, kommt das von diesem Buddhismus?«
»Oh nein«, hatte Meister Rinpoche lächelnd geantwortet, »das hat nichts mit Buddhismus zu tun. Ich habe mich nur dazu entschlossen, ein Problem nicht mit Gewalt zu lösen. Das heißt, ich verletze einen Menschen unter keinen Umständen mit Gedanken, Worten und Taten, denn würde ich so handeln, dann wird dieser Mensch nach Hause gehen und seine Kinder verprügeln. Und ich will einfach nicht, dass er das tut.«
*
Es ist schon spät, als sein GPS-Gerät verkündet, dass er endlich das letzte Ziel erreicht hat. Michael Moraht kettet seinen Motorroller vor einem Wassergraben an einem kleinen Schaukasten mit einer Eiderstedt-Karte fest. Nur vage kann er in der Dunkelheit die Umrisse des mächtigen Kirchengebäudes erahnen, auf das sich der Pfeil des Kompasses ausgerichtet hat.
Dummerweise war er gezwungen gewesen, zu Hause einen längeren Zwischenstopp einzulegen. Kurz nachdem er die Koordinaten beim vorigen Stopp ermittelt hatte, war der Akku von seinem GPS-Gerät plötzlich leer gewesen. Er musste notgedrungen aufgeladen werden, bevor er weitermachen konnte. Während der Wartezeit in seiner Wohnung konnte er einfach nicht widerstehen und hatte sich ins Internet eingeloggt, um mit der Suchmaschine nach Martje Flohrs zu suchen. Er fand einen Eintrag unter ›Boßelverein – Martje Flohrs‹, der eine Erklärung zu dem Spruch auf dem Steinrelief gab und aus der Sagensammlung des Karl Müllenhoff von 1845 stammte:
›Während der Belagerung Tönnings im Jahre 1700 nämlich hatte eine Gesellschaft von feindlichen Offizieren auf einem Hofe in Katharinenheerd Wohnung genommen und verfuhr nach Feindes Art nicht eben säuberlich, so dass ihnen bei Tische eher der Gedanke als der Wein ausging. Die Tochter im Hause, Martje, damals 10 Jahre alt …, sah dem Treiben der Fremden und der Trübsal ihrer Eltern mit Unwillen und Bedauern zu, als sie von den übermütigen Gästen aufgefordert wurde, auch eine » Gesundheit« auszubringen. Dies tat sie auf eine Weise, welche ihr Andenken bis jetzt erhalten hat. Unter » Martje Flohrs’ Gesundheit« nämlich, ohne welche in Eiderstedt beim sinnig frohen male Gast und Wirt sich selten trennen, wird der von ihr damals ausgebrachte Trinkspruch » Et gah uns wohl op unse olen Dage« verstanden.‹
Die Zeit war wie im Fluge vergangen und draußen hatte bereits die Dämmerung eingesetzt, als seine Recherche ihn schließlich auch noch zu dem Holtenpeer führte. Er erfuhr, dass die Schnitzerei schon im 15. Jahrhundert gefertigt worden war. Bei dem Holzreiter handelt es sich um das Abbild des Ritters St. Jürgen, der als ein Drachentöter gilt und der unter dem römischen Kaiser Diokletian den Märtyrertod erlitten haben soll. Bei den Tumulten während der Einführung der Reformation in Eiderstedt sollen die Katharinenheerder ihre Statue auf einer Fenne in der Nähe der Kirche vergraben haben, damit sie nicht an den dänischen König ausgeliefert werden musste.
Als Michael Moraht, den Kopf voll mit seinen Recherchen, durch die Kirchenpforte den Friedhof betritt, kann er kaum noch die Hand vor Augen sehen. Mittlerweile ist der
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